BEDEUTUNG DES VERSTANDES UND DER LETZTBEGRÜNDUNG
Religiöse Ethik geht von einer Letztbegründung aus: Der Mensch muss sich so und so verhalten, weil Gott es vorgegeben hat.
Die Philosophische Ethik versucht sich vom Gedanken der Letztbegründung zu lösen und Maßstäbe zu entwickeln. Aus ihrer Sicht muss der Mensch alles verantworten können – somit auch begründen können. Eine Letztbegründung ist somit nicht die Lösung. Verhalten mit der Vernunft zu begründen, ist keine Erscheinung der Neuzeit, sondern begann zum Beispiel schon mit Sokrates/Aristoteles.
Entsprechend kann man die ethischen Grundströmungen folgendermaßen Darstellen:
A Deontologische Ethik/Pflichtethik
Der Mensch muss sich entsprechend der Vernunftvorgaben verhalten. Das, was gut ist, ist vorgegeben. Als Beispiel ist Kants Ansatz zu nennen: Der Verstand sieht ein, dass der Kategorische Imperativ relevant ist, also muss man sich auch entsprechend verhalten.
Eine besondere Form ist die des Nudging: Die Elite des Staates gibt Anstuppser, damit sich die Menschen entsprechend der Vernunft – wie die politisch/mediale/philosophische Elite es sieht – verhalten (müssen).
B Teleologische Ethik/Lebewesen folgen naturgegebenen Zielen
Hierzu zählen:
- Egoismus (Individualismus) – begründet durch Psychologie
- Hedonismus (Individualismus) – begründet durch Psychologie
- Utilitarismus (Kollektivismus) – begründet durch Soziopsychologie
- Mitleidsethik von Schopenhauer – in der Moderne begründet durch die Entdeckung der „Spiegelneuronen“
- Schleier des Nichtwissens von Rawls – Versuche, mit den sozialen Problemen der Zeit rational umzugehen (ich ordne Rawls hier ein, denn die Furcht vor der Zukunft ist im Grunde Motiv, den Gerechtigkeits-Vertrag zu schließen).
- Risikoethik von Bayes – Versuche, mit den technischen Problemen der Zeit rational umzugehen
- Wissenschaftlich begründete Ethik: Versuche, Ethik naturwissenschaftlich zu begründen – so sprechen die 10 Angebote des evolutionären Humanismus (Giordano-Bruno-Stiftung) begründend von „Wissenschaft“. (Zu den Versuchen, Verhaltensweisen wissenschaftlich zu begründen, sind auch die sozialdarwinistischen Ansätze zu rechnen.)
Gibt es angeborenes Gutes? Wie Tiere Sozialverhalten kennen, dürfte auch bei Menschen Sozialverhalten angeboren sein (wie auch immer das zu begründen ist: Genetisch? Epigenetisch?). Das ist aber nur in einem sehr begrenzten Maße der Fall, da der Mensch in der Lage ist, sein Verhalten selbst zu bestimmen. Wie kam es dazu? Evolutionäre Ethik meint, dass der Mensch durch seine Sippe (unbewusst) im Laufe der Zeit sozialisiert wurde: Du kannst nur überleben, wenn du dem Überleben der Sippe dienst; wenn du dich ihr nicht angemessen verhältst, sanktioniert sie dich, wirft dich aus der Sippengemeinschaft hinaus; draußen wirst du nicht überleben. Überlebt haben also nur die Gruppen, die ein festes Sozialverhalten kannten. Das bedeutet aber auch: Gegenüber Fremden musst du misstrauisch sein, da sie deiner Sippe schaden, du musst sie dir unterwerfen, damit sie dir nicht schaden können. Das wäre das Ergebnis evolutionärer Ethik. Da aber gegenwärtige evolutionäre Ethik bestrebt ist, die Nächstenliebe nicht religiös begründet sein zu lassen, muss sie versuchen, das negative Verhalten gegenüber den Fremden irgendwie anders zu begründen. Dazu dient ihr dann die Religion: Diese grenze aus. Das allerdings ist weder geschichtlich noch logisch begründbar.
C Tugendethik
Jedes Teil der Natur strebt danach, sich zu vervollkommnen. Auch der Mensch. Über diese Onto-Teleologische (Seins-Teleologische) Sicht geht die Tugendethik hinaus: Anders als z.B. beim Baum ist der Mensch nicht festgelegt, er muss selbst darauf achten, wie er sich vervollkommnet.
Hierzu zählen die Ansätze von Platon, Aristoteles, Stoiker/Stoa – aufgenommen von Christen, aber modifiziert. Maßstab für die Tugenden ist bei Platon „das Gute“. Der Weise weiß, was „das Gute“ ist. Für Aristoteles ist das „höchste Gut“ das Glück – aber nur annähernd durch tugendhaftes Leben innerhalb der Polis – des sozialen Miteinanders – zu erreichen. Für die Stoiker lernt die Vernunft, sich dem göttlichen Weltgesetz anzupassen, was zur Ausübung von Tugenden führt.
(In den eckigen Klammern folgt eine Interpretation – die Intention wird allerdings nur den ersten Begriffen zugefügt. Die der anderen bitte ergänzen: Gerechtigkeit [zwischenmenschlich: kein Leiden zufügen/ staatlich: kein Leiden durch Unrecht zufügen], Tapferkeit [Werte durchsetzen], Mäßigung [natürliche Grundordnungen nicht durchbrechen], Freigiebigkeit, Hilfsbereitschaft, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Klugheit, Einfühlsamkeit, Seelengröße… – christlich modifiziert: Glaube, Hoffnung, Liebe). (Dazu beachte auch den achtfachen Pfad Buddhas.)
In der Moderne vertritt der Atheist Dworkin den Ansatz, dass Werte eigenständig seien. Dass Dworkin Atheist ist, ist insofern von Relevanz, als die Tugendethik – so die atheistische Kritik – sehr stark religiös geprägt ist. Kritisiert wird die Tugendethik, weil aus ihr keine Gesetze abgeleitet werden können. Aus christlicher Sicht sind die Tugenden Gesetz, und zwar Gesetz Gottes. Er wird, so vor allem die mittelalterliche Sicht, ein Vergehen im Endgericht ahnden, ein Einhalten belohnen.
D Metaethik
Diskursethik ist ein Teil der Metaethik: Sie steht über allen – denn alle Menschen guten Willens müssen miteinander reden, um zu einem möglichst positiven Ziel zu gelangen. (Bis allerdings ein Ergebnis erreicht ist, bleibt alles so, wie es traditionell ist, damit die -Gesellschaft nicht zerstört wird). Metaethik bedeutet: Man denkt miteinander darüber nach, wie über ethische Fragen nachzudenken ist: Wie ist Sprache angemessen zu verwenden, wie kann man allgemein verbindliche Verhaltensweisen miteinander herausfinden.
E Verstand
Basis aller drei grundlegenden Ansätze ist der Verstand: Der Verstand sagt, welche Tugenden gelten, die Verstand sagt, wie man sich pflichtgemäß zu verhalten hat, ebenso spielt der Verstand bei Ansätzen der Teleologischen Ethik eine Rolle. So basiert auch die Ethik von Peter Singer, der Menschen Würde abspricht, die kein Selbstbewusstsein, keine Autonomie und Rationalität vorweisen (Ungeborene, Säuglinge, Behinderte…) auf Verstand. Er begründet seine Sicht argumentativ. Ebenso basiert die Deontologische Ethik darauf, Ergebnis des Verstandes zu sein. Besonders beruft sich freilich auch die Diskursethik auf den Verstand, weil alle möglichen Argumente zu einem Ziel führen können.
F Grenzen der ethischen Begründung
Das bedeutet, sichtbar an Singer: Für ethisches Verhalten ist eine reine Argumentation nicht immer weiterführend bzw. kann in die Irre führen. Denn auch die Vernunft baut auf Prämissen auf – und kann zeitbedingte Mehrheiten erlangen, die durch Menschen anderer Zeiten abgelehnt werden. Darum ist die Prämisse jedes ethischen Ansatzes zu berücksichtigen. Zudem ist der Verstand ein Teil der Vernunft – und diese wird von Kultur, Emotion, Tradition, Ideologie usw. geprägt. Die „Emotion“ sagt, was zu tun ist – der Verstand sucht dann die Argumente, um mit Gleichgesinnten die Mehrheit zu erlangen. Das bedeutet:
Moral wird „vor-rational“ gebildet, durch Erziehung, Vorbilder. Sie wird dann rationalisiert, bleibt aber abhängig von der „vor-rationalen“ Phase des Lebens. Von daher gibt es auch die berühmte Diskrepanz: Man weiß, was richtig/gut ist – handelt aber anders.
Dass die ethische Begründung an Grenzen kommt, ist auch in der Diskussion um Menschenwürde besonders deutlich. Menschenwürde kann nicht begründet werden – sie muss konstatiert werden, wenn keine Letztbegründung durch Gott gegeben wird. (Siehe https://evangelische-religion.de/menschenw%C3%BCrde.html )
Den Kritiken zum trotz sei jedoch auch erwähnt, dass religiös begründete ethische Vorstellungen nicht einfach so in die Welt gekommen sind, sondern auf dem Verstand unzähliger Menschen, die vor der jetzigen Generation gelebt haben, basieren. Es ist eine kollektiv entwickelte Moral. Für Christen gesehen: Mit Hilfe des Geistes Gottes entwickelt, der den menschlichen Verstand nicht unberührt lässt. (https://evangelische-religion.de/ReligionNeu/kirche/theologie-weg-lern-prozess/)