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Menschenwürde
Im folgenden Abschnitt gilt es darzulegen, dass das Thema "Würde" sich erst langsam durchsetzen musste. Ein paar Stränge werden nachgezeichnet - bis zu den Ansätzen der Neuzeit. Wie wird die Aussage, dass alle Menschen gleichermaßen Würde haben, dass diese "unantastbar" ist, begründet? Die Aussage, dass alle Menschen gleiche Würde haben, wird auch immer wieder durch bestimmte Ansätze in Frage gestellt - was zu massiven Konsequenzen für einzelne Individuen führen kann.
1. Die jüdisch-christlichen Grundlagen
a) Genesis 1und 2: Wesenswürde und Gestaltungswürde
Der Mensch (als Mann und Frau) wurde als Ebenbild Gottes geschaffen. Das heißt: Mann und Frau haben von Gott Aufgaben bekommen. Sie sind Statthalter zur Bewahrung der Schöpfung: Sie benennen alles, was um sie herum ist. Sie sind kreativ… Die Bedeutung für das Thema „Würde“: Nicht nur Herrscher sind Ebenbilder Gottes, sondern alle Menschen. Es ist eine Wesenswürde, die dem Menschen zukommt. Aus ihr heraus folgt der Gestaltungsauftrag. Die Frage ist umstritten: Gilt diese Würde (a) dem jeweiligen Individuum oder (b) der Menschheit als Gattung.
Dass Mann und Frau gleiche Würde haben, entspricht auch Genesis 2. Die Frau wird aus der Rippe des Mannes geschaffen, nicht, um sie unterzuordnen, sondern um zu betonen, dass sie ein Fleisch - also eine vollkommene Einheit - seien. Gott hauchte Menschen den Lebensgeist ein - er hauchte uns Würde ein. Doch der Mensch widersetzt sich dem Willen Gottes. Er hat von Gott von Anfang an Freiheit bekommen, sich widersetzen zu können, das heißt auch: Er hat Verantwortung übertragen bekommen – und muss auch die Konsequenzen tragen. Durch seine Sünde hat er seine Würde verzerrt, er ist verzerrtes Ebenbild Gottes - aber Würde hat er nicht verloren, genauso wenig wie Freiheit und damit Tragen von Verantwortung.
Gott stellt den Menschen sehr hoch – darum fällt er umso tiefer.
Bemerkungen:
b) Jesus Christus (ca. 7v.-30n.Chr.) Wesenswürde und Fokussierung auf Gestaltungswürde
Jesus Christus konkretisiert das Thema „Würde“ mit Blick auf das Individuum. Das Individuum muss seine Beziehung zu Gott klären, da hilft nicht das Volk. Dem Individuum kommt seine Fürsorge zugute: „Dein Glaube hat dir geholfen“ – dem Individuum wird Kraft zugesprochen… Jesus erwartet: Wird der Einzelne verändert, verändert sich das Volk – vielleicht sogar: die Menschheit.
Jesus argumentiert jedoch nicht mit Genesis 1-2, sondern er konstatiert die Würde des Menschen, ohne freilich einen entsprechenden Begriff zu verwenden.
Auch die Frau, der geholfen wird, ist ein Kind Abrahams. Jesus argumentiert damit, dass Kranke und Sünder Hilfe benötigen. Er argumentiert mit dem Drang zu helfen (Mitleid?) (Mt 25,31ff.; Ethik der Einfühlung: vgl. auch Mt 7,12: positive Goldene Regel). Die Entwürdigten werden mit Blick auf die Zukunft aufgewertet und können sich somit jetzt schon aufwerten (Seligpreisungen). Jesus sagt: Ihr seid das Salz der Erde/Licht der Welt: Er begründet also nicht direkt, warum der Mensch Würde hat, er konstatiert die Würde der Angesprochenen - als Kinder Gottes (Mt 5): Seid vollkommen wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist. Auch die Antithesen in der Bergpredigt begründen die Handlungen nicht mit dem Thema Würde – sondern so entspricht es Gottes Willen. Gutes Handeln wird nicht mit dem Thema Würde gefordert, sondern damit, dass man dem anderen Gutes tue – über Grenzen hinweg (Gleichnis vom Barmherzigen Samariter).
Leiden nimmt dem Menschen Würde - so empfindet es der Leidende vielfach. Das Leiden Jesu gibt dem Menschen Würde zurück (Dornen-Krone - das äußerste Erniedrigungsymbol wird Königssymbol). Der Tod nimmt dem Menschen Würde - so empfinden es Menschen, die den Tod als endgültige Begrenzung des Individuums wahrnehmen. Die Auferstehung Jesu gibt dem Menschen Würde über das Sterben hinaus.
Bemerkungen:
c) Apostel Paulus von Tarsus († um 65 n.Chr.)
In der frühen Christenheit waren auch viele Sklaven Teil der Gemeinde. Dem Apostel Paulus ging es wohl nicht in erster Linie darum, die Sklavenbefreiung zu propagieren. Aber ein Christ als Sklavenbesitzer sollte Sklaven wie Brüder /Schwestern behandeln (Brief an Philemon). Wesentlich: Man kann seine Würde als Kind Gottes auch als Sklave leben. Der Status vor Gott war wichtiger als der vor den Menschen. Das gab den Erniedrigten Würde. Ein Einsatz für die Sklavenbefreiung lag zu der Zeit nicht im Blick, wäre auch vom Staat massiv geahndet worden. Vielleicht formuliert Paulus aus diesem Grund so doppeldeutig: 1. Korinther 7,20ff. - je nach Bibelübersetzung. Frauen haben gleiche Würde - allerdings konnten sie aufgrund der damaligen Situation nicht wie Männer handeln - sie waren gefährdet. Dass alle Menschen gleiche Würde haben - ohne das Wort "Würde" zu verwenden, zeigt diese Aussage: "Jetzt ist es unwichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: in Christus seid ihr alle eins" (Galaterbrief 3,28).
d) Ambrosius (4. Jahrhundert) und Luther (15./16. Jahrhundert)
Der Bischof Ambrosius von Mailand betonte, dass diejenigen Würde haben, denen Menschen die Würde nehmen. Er betont: Das verdient Würde genannt zu werden, wenn nach menschlichen Maßstäben einer unwürdig sei. Begründung (!): Das darum, weil Gott in Jesus Christus Mensch (unwürdig) geworden ist. Gott hat seine Macht aufgegeben darum sind auch Mächtige ferner von Würde. Er beschreibt als Idealzustand: Alle teilen gleiche Würde (Dignitas). Würde und Freiheit gehören zusammen.
Für Luther wird Würde dem Menschen durch Gott in der Rechtfertigung (Gott macht den sündigen Menschen durch den Tod Jesu am Kreuz gerecht) zugesprochen.
e) Fazit
2. Nichtchristliche Ansätze: Buddhismus, Islam, Cicero (Naturrecht)
a) Buddhismus / Buddha (Siddharta Gautama - 6. Jahrhundert vor Christus: Gestaltungswürde und Ashoka (304-232 v.Chr.): Gestaltungswürde und Ansätze der Wesenswürde
Buddha versucht das Kastenwesen aufzuheben. Die Würde des Menschen besteht darin, dass er versuchen kann, sich dem, was Würde nimmt, was entwürdigt – das Leiden – zu entziehen, um ins Nirwana, die Loslösung, zu gelangen. Der Achtfache Pfad versucht Vorgaben zu machen, die das Leiden durch Gesinnung und Tat vermindern. Es wird konstatiert, nicht argumentiert.
Auch Kaiser Ashoka argumentiert in den 14 Felsenregeln nicht, er konstatiert. Es ist das „moralische Gesetz“ das gilt. Ashokas Regeln beginnen mit der Anrede: Geliebte der Götter… - und für die "Geliebten der Götter" gilt: Gut ist es, nicht Tiere zu töten, gut ist es, Vater und Mutter zu ehren… Gegen Schuld auf sich laden, für Verdienste erwerben. Es geht um Unterstützung von Gefangenen, Kranken usw. Ziel: Wohlergehen, Glück und Erlangen der himmlischen Welt.
Bemerkungen:
b) Islam /Mohammed (ca. 570-632 n. Chr.): Von Allah bis ins Detail bestimmte Wesenswürde (Gesetz)
Würde hat der, der Allah – wie er sich im Koran kundgibt - folgt und den Propheten Mohammed – wie er in den Ahadith vorgestellt wird – anerkennt. Vernunft und Willensfreiheit sich für das Gute zu entscheiden, das macht den Menschen so groß, dass sich sogar Engel vor Adam niederwerfen. Weil alle Menschen von Adam abstammen, sind sie gleich. Menschen sind von Anfang an Verehrer Allahs – und manche sind von Allahs Forderungen abgefallen. Und diese müssen zurückgeführt werden.
Bemerkungen:
c) Naturrecht und Cicero (106-43v.Chr) (römischer Jurist, Rhetor und Philosoph in stoischer Tradition)
Die Natur lehrt, was es heißt, dass alle Menschen Würde haben: Alle sind gleich geboren worden. Aber das ist nicht die einzige Schlussfolgerung, denn die Natur zeigt auch, dass das Recht des "Stärkeren" sich durchsetzt (je nach Intention: Reichtum, Macht, Leistung, Abstammung, Schlauheit; vgl. Platon: Gorgias).
Cicero:
Die ersten beiden Punkte entsprechen traditionellen Vorstellungen. Der vorletzte Punkt wurde zwar theoretisch angedacht, hatte aber noch keine gesellschaftspolitischen Folgen. Das Thema, dass Menschen aufgrund ihrer Würde geschützt werden müssten, ist nicht im Blick: Wesentlich ist die soziale Rolle, die man würdig zu spielen hat. Denn gleichzeitig wurde in der Antike begründet, warum Menschen zu recht versklavt werden.
Bemerkungen:
3. Neuzeit - im christlichen Kulturkreis - so genannte postchristliche Zeit
a) Kant (1724-1804):
Kant ist gegenwärtig wesentlich für die Frage nach der Würde, weil das Wort „Würde“ im Deutschen Grundgesetz auf seine Vorarbeiten zum Thema zurückzuführen ist. Freilich ist umstritten, was er damit meinte. Grundsätzlich: Die Autonomie der Vernunft des Menschen ist Grund der Würde. Der Mensch darf andere nicht für seine Wünsche benutzen. Die Vernunft dient der moralischen Selbstbestimmung. Der Kategorische Imperativ (Grundform): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Würde hat der sittliche Mensch.
Die Frage ist, wieweit Würde bei Kant auch für die geistig Behinderten usw. gilt, die nicht die Vernunft einsetzen können. Während er in der Moralphilosophie eher Behinderte ausschließt, werden sie in der Metaphysik der Sitten eher eingeschlossen. Eine mögliche Antwort: In jedem Menschen ist die Vernunft unvollständig – und darum gilt die Würde der Menschheit als Ganzes.
Bemerkung:
b) Gegenwärtige Ansätze: Keine Wesenswürde - nur Gestaltungswürde
Gegenwärtige Ansätze stellen den Verstand in den Vordergrund, darum wird Menschenwürde vom Naturrecht wie vom christlichen Glauben gelöst. Niemand gibt vor, was Würde ist, weder Gott noch Natur, das muss neu bestimmt werden. Dazu gibt es unterschiedliche Ansätze, sie zu begründen:
Bemerkungen:
c) Präambeln: Charta der Vereinten Nationen 1945 (I) und Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) (II) und Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (III), Unabhängkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 (IV)
(I) "... unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, ..."
(II) "Da die Anerkennung der angeborenen Würde (sanctity wurde durch dignity ersetzt) und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet...
(III) "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
Bemerkung:
Dieser Satz (I und III) greift das Naturrecht auf, wird aber jüdisch-christlich interpretiert. Denn: Wer sagt, dass dem so ist? Es wird behauptet. Das heißt: Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist Folge der jüdisch-christlichen Tradition in Fortführung durch die Moderne. Darum stimmen in der Gegenwart andere Kulturkreise dem dort Niedergelegten nicht mehr so ohne weiteres zu. Man rührt aber nicht an dem Problem, sonst würde die Welt politisch noch mehr zerfallen. Anders ist (II) zu beurteilen. Hier wird vermutlich die Beobachtung wieder gegeben, dass es Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden nur gibt, wenn man die Würde aller beachtet. Es handelt sich um eine Art Klugheitsregel.
(IV) Die Aussagen der UN greifen modifiziert die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 auf: "Wir halten diese Wahrheit für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und Bestreben nach Glückseligkeit." Hieran kann man schön sehen, wie der säkulare Mensch Traditionen aufgreift, die im christlichen Glauben verwurzelt sind, aber dann diese Tradition leugnet - und vielfach auch so tut, als seien die Aussagen Ergebnis moderner atheistischer Aufklärung.
d) Deutsches Grundgesetz Artikel 1 Absatz 1 (Mai 1949)
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes: „Jeder besitzt (Menschenwürde), ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen und geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch `unwürdiges´ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ Warum dem so ist, kann nicht hinterfragt werden: Dem ist so. Menschenwürde wird absolut gesetzt, ohne dass gesagt wird, was eigentlich geschützt werden muss.
Bemerkung:
4. Christliches Verständnis von Würde in der Gegenwart auf der Basis der Bibel/Jesus und der letzten 2000 Jahre
Würde findet ihre Letztbegründung in Gott, seiner Erschaffung des Menschen, dass er ihn durch die Sendung Jesu Christi würdigt und mit seinem Geist beschenkt.
Einige weitere Aspekte zum Thema Würde:
5. Fazit: Das Gottes- und Menschenbild prägt die Vorstellung von Menschenwürde
Das Gottesbild der Menschen bestimmt auch ihre Vorstellung von Würde bzw. dem würdevollen Umgang mit Menschen.
Ebenso bestimmt das Menschenbild die Interpretation des Wortes Würde und den Umgang mit anderen Menschen und sich selbst:
Zu diesem Komplex siehe auch: https://evangelische-religion.de/theologie---wegprozess.html
6. Literatur
Der ursprüngliche Beitrag wurde im August 2018 mit Hilfe des Werkes von Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Achendorf 2009 (5. Auflage) ergänzt.