Homo Philosophicus

In uns Menschen steckt der Philosoph, derjenige, der über sich selbst und das Leben nachdenkt. Man kann Situationen erleben und denkt: Ist alles vorherbestimmt? Oder man denkt: Wer wäre ich, wenn eine andere Samenzelle eine andere Eizelle getroffen hätte? Wer wäre ich, wenn ich in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen wäre – wäre ich dann ein ganz anderer? So denken wir uns dann manchmal durch den Alltag, hören dann aber auf, auf diese Art zu denken, die Welt „in-Frage-zu stellen“, weil wir denken, dass vertieftes Denken nicht gerade dazu beiträgt, unseren Alltag zu bewältigen, der sich im Wesentlichen um die Selbsterhaltung (samt Familie) dreht. Kleine Kinder fragen viel und entdecken darum auch viel, sie staunen über Gott und die Welt – Erwachsene sind in dieser Hinsicht vielfach eher eingeschränkt, sie glauben die Welt zu kennen. Allerdings gibt es Menschen, die Philosophen, die über alles mögliche in der Welt nachdenken. Dieses Nachdenken ist nicht nur ein Privatvergnügen, sondern es beeinflusst die Gesellschaft. So sind wir heute zum Beispiel auch von dem geprägt, was der Philosoph Kant gedacht hat. Philosophen können neue Ansätze in die Gesellschaft hineinbringen, etwas ausarbeiten, woran die Menschen bislang nicht gedacht haben. Damit können sie das Leben und Zusammenleben zwar nicht nur verbessern, bringen aber zumindest neue Impulse.

Der Mensch ist stolz auf seine Fähigkeit zu denken. Er ist stolz auf die Fähigkeit zu sprechen – und die Sprache und die damit verbundenen Vorstellungen immer weiter auszudehnen, Gedankenwelten zu errichten. Das unterscheidet ihn vom Tier. Und er kann auch stolz darauf sein – auch dann, wenn es manchmal nur wie abstrakte Wortspielereien erscheint.

In diesem Zusammenhang ist auch der Homo Philosophicus zu betrachten. Auch er ist wie der Homo Oeconomicus, der Homo Sociologicus, der Homo Psychologicus ein Kunstprodukt. Kein Mensch kann so sein wie er gedacht wird. Es ist eine Art idealer Denker, ein Denker, der unabhängig von jeglichen menschlichen Störungen einfach nur logisch denkt, seinen Verstand überhöht und mit dem Denken meint, sich selbst, die Welt und das so genannte Göttliche vollständig zu erfassen. Der griechische Philosoph Sokrates hat im Apollos-Heiligtum in Delphi erfahren: „Erkenne dich selbst!“  (Gnothi seauton) – und das ist dem fiktiven Homo Philosophicus der Ausgangspunkt. Der griechische Philosoph Platon sagte: Nur der Philosoph erkennt die wahre Welt – entsprechend kann er nicht nur die wahre Welt erkennen, sondern auch die richtigen Gesetze geben, die Gesellschaft ordnen. Dann kam im Laufe der Jahrhunderte die Logik zum Homo Philosophicus dazu, sodass er nun in der Lage ist, sich selbst, die Welt und Gott logisch zu erfassen.

Der Philosoph Quassim Cassam bringt ein Beispiel für einen Homo Philosophicus. Man geht mit einer solchen fiktiven Person essen; der Kellner kommt und fragt, was man trinken möchte; man antwortet: „einen Gin Tonic“. Da fragt dann der Homo Philosophicus: „Woher weißt du, dass du einen Gin Tonic willst?“ Das heißt, er ist einer, der alles eruiert, alles erfassen will, die eigenen Wünsche, das Wollen, das Handeln. Zwischen Wünschen und Wollen liegt ein großer Unterschied: Will man wirklich, was man sich wünscht? Wünscht man sich wirklich, was man will? (Eine Verteidigung der Denkfaulen: Man muss an dieser Stelle vorsichtig sein. Ich habe einmal einen Text gehört: Ein Tausendfüßler wurde von einem Marienkäfer bestaunt, weil er einfach so seine 1000 Füße bewegen kann. Und er fragte den 1000-Füßler: „Mit welchem Fuß fängst du an zu laufen?“ Seitdem kam der 1000-Füßler nicht mehr vom Fleck, weil er sich ständig verhedderte.)

Der Homo Philosophicus geht allem rational-logisch auf den Grund. Er ist sehr gebildet, kann alles in einen logischen Zusammenhang bringen, Natur – Welt – Metaphysik (Transzendenz/Gott), und dazu verwendet er dann Worte, Begriffe, die er zuweilen selbst erfindet, um eben die Welt mit einem logischen Gedankengebäude durchdringen zu können. Denn er hat ja recht, mit der oben genannten Frage nach dem: „Woher weißt du, dass du einen Gin Tonic willst?“ Um mit Cassam weiterzuführen: Wenn ich nun gesagt hätte, in Mombasa regnet es, hätte der Homo Philosophicus zu recht gefragt: „Woher weißt du das?“ Entsprechend ist es logisch, dass er fragt: „Woher weißt du, was du zu trinken wünschst?“ Weiter geführt: Es geht nicht allein mit Wünschen so. Auch für seine Überzeugungen muss man Gründe angeben – und zwar rational-logische.

An dieser Stelle muss man jedoch unterscheiden zwischen Verstand und Vernunft: Als Verstand wird das bezeichnet, was möglichst rational die Welt zu durchdringen sucht. Der Verstand ist jedoch nur ein Teil des Menschen, der aus Emotion, aus Sozialisation, aus seinem Charakter, seiner biologischen Verfassung, seiner ganz eigenen kognitiven Fähigkeit besteht. Und als ein solch vielfältiges Wesen hat der Mensch seine Überzeugungen gewonnen – es ist ihm gar nicht mehr möglich, sie alle rational-logisch zu durchdringen. Der Mensch ist immer ein „unvollendeter“ Denker – was die Logik betrifft. Entsprechend scheint ihm manchmal etwas logisch, was einem anderen unlogisch erscheint. Der „rational-logische“ Verstand ist nur ein Teil der (auch) emotionalen Vernunft.

Aber wie das so ist: Auch wenn der Mensch noch so rational alles durchdringt, auch sich selbst, dann gibt es doch Ereignisse, die ihm verdeutlichen, dass er in Wirklichkeit was anderes wollte, als er sich wünschte oder was anderes wünschte als er wollte. Er hat sich so und so eingeschätzt, doch dann kommt eine Situation und er muss lernen, dass er sich selbst falsch eingeschätzt hatte. So lernt der Mensch aus unterschiedlichsten Gründen, wenn er denn will, sich selbst kennen – aber das hat dann letztlich nichts mit Logik zu tun, sondern mit der Fähigkeit, sich selbst zu beobachten. Manchmal ist es so, dass man sein Denken nicht in Worte fassen kann, dann aber etwas hört – und empfindet diese Worte so, dass sie dem eigenen Denken entsprechen. Das heißt: Manches schlummert in einem, benötigt einen Menschen oder Ereignisse, die es auf die Bewusstseinsebene heben.

Was sagt dazu der Homo Philosophicus? „Das ist zu wenig. Man muss sich selbst genau erkennen, um selbst zu wissen, was man will, welche Werte man vertritt, welche Überzeugungen man hat, um sich selbst treu bleiben zu können.“ Aber bleibt nur der Mensch sich selbst treu, der sich radikal analysiert hat? Was bedeutet es eigentlich, sich selbst treu zu bleiben im Wandel der Erfahrungen? Der Homo Philosophicus kann sich grundsätzlich nicht selbst treu bleiben, weil er rational-logisch gar nicht ans Ende des Nachdenkens über sich selbst kommt. Als Mensch – nicht als fiktiver Homo Philosophicus – sollte man schon versuchen, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten selbst zu erkennen, und dann zu staunen, wenn Ereignisse eintreten, die „zufällig“ die Selbsterkenntnis fördern. Ganz unlogisch.

Der Homo Philosophicus ist, wie oben geschrieben, ein Kunstprodukt. Manche Menschen streben dem nach, ein solcher Mensch zu werden, der alles logisch durchdringt und glaubt auch, es geschafft zu haben. Er ist so eine Art philosophische Barbiepuppe. Manche versuchen den Körper a la Barbie aussehen zu lassen – derjenige, der dem Homo Philosophicus nachstrebt, wird eine Art Verstandes-Barbie. Anders als Barbie-Nachahmerinnen, die einfach nur ihrem Ideal entsprechen und bewundert werden wollen, beansprucht der Homo Philosophicus eben Erkenntnisse, die der normale Homo Sapiens nicht hat, und versucht wie der Philosophen-König Platons sich selbst mächtig fühlend, die Welt zu beherrschen. Allerdings dominieren zu seinem großen Leidwesen andere, eben die Unlogischen, die Irrationalen. Diese haben dann in ihrem irrationalen Denken nichts besseres zu tun, als dem Homo Philosophicus zu fragen: „Woher weißt du, dass rational-logisches Denken wirklich die vollständige Selbst- und Welterkenntnis zur Folge hat?“ Zu diesem Text s.: http://www.philosophersmag.com/index.php/component/content/article?id=98:what-do-you-really-want

Aufgabe:

Wie schätzt Du Jesus ein, was das rational-logische Durchdringen des Menschen betrifft? (Denke zum Beispiel an seine Gleichnisse/Bildworte: Lies Markus 4,30-32; Lukas 15,3-10; Matthäus 7,3-5; 7,24-27. Was haben Gleichnisse, das rational-logische Texte nicht haben?)

Überlege: Welche Gattungen verwendete Jesus bevorzugt, um den Menschen zu einer Stellungnahme mit Blick auf sein Welt- und Gottesbild zu bewegen? (Ein Tipp: Lies Lukas 15,11ff.; Lukas 12,13-21.)

Jesus geht es darum, dass der Mensch von seinem bisherigen sündigen/asozialen Leben zu Gott umkehrt und mit anderen eine gottgemäße Gemeinschaft bildet. Das bedeutet, dass der Mensch in sich geht und erst einmal erkennt, dass er asozial war. Wie versucht Jesus das zu erreichen? Welche Texte fallen Dir dazu ein? (Matthäus 5,21-48; 7,1-6; 25,31ff.; 18,21ff.)