Bibel-Interpretation – Verheißung-Erfüllung – Textstruktur

Neutestamentliche Autoren sehen, dass Jesus Christus in alttestamentlichen Schriften angekündigt wurde. Wie ist das zu verstehen?

Historisch-kritisch gesehen, haben die Autoren der Schriften, die im AT-Kanon gesammelt wurden, natürlich nicht Jesus Christus im Blick gehabt. Historisch-kritische Exegese geht von der Prämisse aus, dass es Prophetien im strengen Sinn nicht geben kann. Somit kann auch kein alttestamentlicher Prophet etwas von Jesus gewusst haben. Entsprechend der modernen Sicht ist allein das zu berücksichtigen, was experimentell wiederholt werden kann, was der modernen Ratio nicht widerspricht, es gilt das, was man sieht – aber nur sofern es allgemeiner menschlicher Erfahrung zugeordnet werden kann. (Was das allerdings ist, das entscheiden die Rationalisten Europas und Amerikas, nicht die Asiaten, Afrikaner, nicht die Menschen vergangener Zeiten. Das muss man auch aussprechen, welche Intention dahinter steht: Die der modernen Überheblichkeit.) Von daher fallen alle möglichen Glaubensaussagen weg: Prophezeiungen, Wunder, Auferstehung, Gott.

Nun muss allerdings auch der historisch-kritische Mensch sehen, dass es in der Antike bis in die Gegenwart Menschen gab und gibt, die ein anderes Verständnis von Welt hatten und haben, eine andere Interpretation von Schriften: Die Texte wurden auf die jeweilige Gegenwart bezogen, ihre Lehre, ihre Weisheit, ihre Intention, weil Gott in seinem Geist der Handelnde war und genauso auch noch ist.

Diese Sicht haben die Judenchristen entwickelt – auf der Basis der Vorarbeiten jüdischer und heidnischer Denker. Das bedeutet: Das, was in den alten Schriften steht, das hat Bedeutung für die Gegenwart. Das aber nicht nur im landläufigen Sinn, wie wir noch Weisheiten des Konfuzius, Siddharta Gautamas, alte ägyptische und griechische Weisheiten rezipieren oder den Werken des Platon und Aristoteles Anregungen entnehmen, sie überprüfen, ob sie heute noch Relevanz haben.

Aus dem Glauben heraus kommt eben ein grundlegender Ansatz hinzu:

Gott, der war, der ist und sein wird, hat sich in der Vergangenheit in das Wort dieser alttestamentichen Autoren eingebracht. Seine Stimme gilt es herauszufiltern. Menschen haben den Menschen Jesus und den auferstandenen Jesus Christus erfahren, und haben dann aus dieser Perspektive alttestamentliche Schriften neu lesen gelernt. Diesen Prozess zeigt uns zum Beispiel Lukas in der Emmaus-Geschichte (Lukas 24,13ff.), zeigt uns Johannes im Kontext der Auferstehung Jesu (Johannes 20,9), Paulus spricht von der Decke, die von den Augen genommen wurde (2. Korintherbrief 3). Diese Ereignisse, in denen Gottes Handeln erfahren wurde, warfen ein neues Interpretations-Licht auf alttestamentliche Texte. Das bedeutet: Das Jesus-Ereignis wurde schon von Gott angekündigt – nur hatte man es nicht erkennen und verstehen können. Aber jetzt, rückwirkend, da kann man es erkennen.

Diese Sicht, dass Gott der Handelnde war und ist, lässt rückwirkend eine Menge erkennen. Einmal im persönlichen Leben: In der Vergangenheit hat man vieles nicht verstanden – aber jetzt, rückwirkend gesehen, klärt sich das (auch dann weiter geführt: aus der Perspektive des Lebens bei Gott wird auch nach dem Sterben alles geklärt werden). Oder: Die Entstehung der Welt ist Zufall, „Urknall“, Evolution usw. – doch aus der Perspektive des Glaubens sind all diese Ereignisse, die Materie und Leben ermöglichten, eben kein Zufall.

Das ist allerdings nicht nur eine Glaubensperspektive. Auch Wissenschaft im strengen Sinn sieht das, was in der Forschung falsch lief, was nicht richtig interpretiert wurde, immer aus der jeweiligen Gegenwart. Die Gegenwart ist der Maßstab, mit dem Vergangenes beurteilt wird.

Auch der auferstandene Jesus Christus redet

Noch ein Aspekt sei genannt, was zu diesem Thema gehört: Nicht alles, was wir in den Evangelien als Wort Jesu hören, wurde vom Menschen Jesus selbst gesprochen. Jesus Christus ist der Auferstandene – er spricht durch die Menschen, die ihm nachfolgen. Entsprechend mögen bestimmte Worte historisch-kritisch nicht auf den Menschen Jesus zurückzuführen sein, doch bedeutet das für den Glaubenden nicht, dass sie gar nichts mit Jesus Christus zu tun haben, denn er wirkt ja in seinem Geist und redet durch seinen Geist durch Menschen. Von daher haben sie große Bedeutung. Die Konzentration auf den Menschen Jesus in der historisch-kritischen Exegese ist richtig, auch um einen Maßstab zu bekommen. Die Verabsolutierung des Menschen Jesus von Nazareth, ohne das Wirken des Auferstandenen zu berücksichtigen, erfasst jedoch nur einen Bruchteil, ist für den Glaubenden also zu wenig.

Texte sind Textilien – Tiefenstruktur

Glaubende haben eine andere Perspektive auf die Welt. Vergleichbar ist das mit dem, was die Linguistik herausgearbeitet hat: Oberfläche eines Textes und Tiefenstruktur eines Textes. Das Wort Text kommt von „weben“. Worte werden zusammengewebt. Bei einem gewobenen Teppich kann man Vorder- und Rückseite voneinander unterscheiden. Die Oberfläche ist ordentlich, mehr von der Struktur (der Knüpftechnik usw.) kann man auf der Rückseite erkennen. Wir interpretieren den Text – wenn man nicht tiefer in die Sprache eingedrungen ist – allein von der Oberfläche her (schönes Beispiel sind Gedichte). Wenn man einen Blick für Texte bekommen hat (dominieren Verben, Substantive, Imperative, Adjektive, Satzbrüche…), dann bekommt man eine Intention davon, was diese Texte auch auf der tieferen Ebene, der Ebene des Unterbewussten zu erreichen suchen (helle Vokale machen fröhlich – wenn sie nicht schrill übertrieben werden, dunkle Vokale beruhigen und wirken, wenn übertrieben wird, bedrohlich).

Entsprechend hat auch die Welt eine Oberfläche – und die Welt-Interpretation unter der Oberfläche, die Tiefenstruktur, die versuchen Fachleute als Wissenschaftler zu ergründen, wieder auf einer noch tieferen Ebene agieren die Glaubenden. Um im Bild zu bleiben: Wissenschaftler suchen die Unterseite des Teppichs ab, um zu verstehen, Glaubende schauen auf diejenigen, die den Teppich hergestellt haben und auf den Boden, auf dem der Teppich liegt.