Vor allem, als sich das Christentum im römischen Reich durchgesetzt hatte, gab es christlichen Mob. Es schaudert einen, wenn man sieht, wie Mönchshorden gegen Mönchshorden kämpften, wie sie einzelne Menschen bedrohten und töteten, wie sie unterlegene Gruppen buchstäblich in die Wüste jagten. Mob in christlichem Mantel gab es unter den arianischen Germanen, während der Kreuzzüge, unter den gegeneinander konkurrierenden Gruppen, während der vielen Kriege in Europa (die letztlich dazu führten, dass Europa militärisch so stark werden konnte und weltweit seine inzwischen säkular-national-kapitalistische Macht durchsetzen konnte), während des Kolonialismus und der Versklavungen von Menschen, ebenso wie in der Neuzeit in Ruanda und in Bosnien – und vergessen wir nicht, wie barbarisch sich Getaufte in Zeiten des Nationalsozialismus und Kommunismus verhalten haben.

Es wird auch weitergehen – so befürchte ich zum Beispiel: Es werden täglich tausende von Menschen Christen, die dann zwar „Christen“ sind, aber überhaupt nicht wissen, was das bedeutet. Manchmal naiv missbraucht von glänzenden Rhetorikern und Verblendern.

Zudem dürfen wir allerdings nicht mit den Fingern auf sie zeigen, weil moralisch auch in unseren Breiten manche, die sich Christen nennen destruktiv verhalten. Menschen, die den christlichen Mantel übergeworfen haben, fallen auch über Christen her. Und das finden wir ja schon im Neuen Testament, wenn vor dem Wolf im Schafspelz gewarnt wird, vor den Antichristen, die sich als Christus ausgeben. Man denke an den erschreckend guten Text von Dostojewski: Der Großinquisitor.

Was aber bot der christliche Glaube? Er bot Maßstäbe dafür, zu erkennen, was unmenschliches Verhalten ist. Es bietet Maßstäbe dafür, dass die jeweiligen negativen Inkulturationen nicht glorifiziert werden, sondern kritisch beäugt werden können. Und das eben schon in der jeweiligen Zeit. So werden Exzesse schon von Christen selbst kritisiert und angegriffen.

Welche Aufgabe haben Christen? Das Üble und widergöttliche nicht zu verschönern, weil man denkt, man müsse die eigene Sippe verteidigen. Man darf allerdings auch nicht die eigene Kultur zum Maßstab nehmen und mit ihrer Hilfe die Vorfahren angreifen. Sie lebten in ihrer Zeit. Wo der Glaube sie im Sinne Gottes veränderte muss man würdigen. Wir verkündigen nicht, dass Christen so tolle Kerle sind, wir verkündigen Gott, der sich in Jesus Christus den Menschen zugewendet hat. Und diese Verkündigung geschieht eben auch nicht in Vollkommenheit, sondern in der Gebrochenheit des jeweiligen Glaubenden.

Zum Beispiel: Was war Paulus für ein unmenschlicher Mensch – der christliche Glaube hat ihn verändert. Natürlich ist er nicht vollkommen. Das weiß auch er. Aber Gott arbeitet an ihm. Die am Menschen arbeitende Gnade Gottes muss man berücksichtigen, nicht einen vollkommenen Menschen suchen und dann auf ihn losknüppeln, weil er nicht meinem Vollkommenheits-Ideal entspricht.

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Noch eine Anmerkung mit Blick auf gegenwärtigen Umgang mit Menschen vergangener Zeiten:

Man kann aus der gegenwärtigen Perspektive hinter allen Menschen, die positiv hervorgehoben werden, Schattenseiten erkennen. Warum? Sie waren Menschen ihrer Zeit.

Nun haben Menschen ihrer und der nachfolgenden Zeit nicht die Schattenseiten hervorgehoben, sondern die Seiten des Lichts.

Warum wohl? Weil diese Lichtseiten für die Menschen als Maßstab für gutes Handeln dienen sollten, um eben irgendwelche negativen Taten zu verhindern.

Nun kommen neunmalkluge Menschen daher und sagen: Die Lichtgestalt XY hat aber auch Schattenseiten. Das wird dann reißerisch herausgestellt. Zudem so herausgestellt, dass es mit negativen Gruppen oder Menschen der Gegenwart kompatibel gemacht wird. Eine Tat vor 2000, 4000, 8000 Jahren steht in einem völlig anderen Kontext als eine Tat der Gegenwart. Das wird übergangen und gleichgestellt.

Natürlich hatten die positiv hervorgehobenen Menschen Schattenseiten. Genauso wie diejenigen Schattenseiten haben, die die Schattenseiten anderer betonen. Denn es ist aus meiner Perspektive nicht hilfreich, die positiven Seiten zu negieren, um die negativen Seiten hervorzuheben, damit man zeigen kann, was man selbst für ein toller Mensch ist. Denn wenn ich sage, was der andere Übles tut, zeige ich damit gleichzeitig, was für ein toller Mensch ich bin.

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht gegen Wissenschaft, die versucht, Menschen der Vergangenheit als eben solche herauszuarbeiten.