Theodizee: Zusammenfassung und Überblick über Verstehensversuche

Über das Leiden des Menschen und sein Umgang damit, wurde schon sehr viel nachgedacht. Die Theodizee-Frage, das heißt, die Verbindung dieser Frage nach dem Leiden mit Gott, ist im Wesentlichen davon abhängig, welches Gottesbild eine Religion hat. Ist Gott berechtigt, alles mit Menschen zu machen, was er will, dann stellt sich die Frage genauso wenig wie wenn eine Religion von undurchschaubaren Launen der Götter ausgeht oder den Abhängigkeiten von Ahnengeistern und anderen Geistern. Die Frage kann erst ganz dominant aufbrechen, wenn Menschen glauben, dass Gott gerecht ist, Befreier und Liebender. Dass es viele unterschiedliche Versuche gibt, die Frage zu beantworten, das hängt damit zusammen, dass wir Menschen verschieden sind – auch in der Gottesbeziehung. Wir versuchen, alles mit dem Verstand zu durchdringen – und sind immer nur auf dem Weg, von Etappe zu Etappe, zu einem befriedigenden Ergebnis.

Unabhängig vom Glauben versuchen auch nicht glaubende Menschen ihr Leiden einzuordnen: Lerne ich aus dem Leiden, wachse ich als Mensch im Leiden? Welche Auswege finde ich? Verstehe ich einfach nur noch nicht, warum ich leiden muss? Es gibt freilich auch Menschen, die es einfach annehmen: Es ist Zufall/Schicksal, wenn einer leiden muss. Mich hat es leider getroffen. Resignierende Menschen sagen sich: Es musste mich ja treffen, ich bin ein Pechvogel, mein ganzes Leben geht irgendwie schief.

„Philosophisch“

  1. Depotenzierung des Leidens: (a) Leiden ist im Grunde irrelevant (Buddhismus); (b) Leiden ist nur Abwesenheit des Guten.
  2. Pädagogisierung: Leiden ist notwendig, um Menschen moralisch zu heben und reifer zu machen (Mitleid…) – (theistische Version: Gottes Strafe-Zorn; religiös: Karma/Weltgesetz [Hinduismus/Buddhismus], christlich: Gott lässt den Glaubenden leiden, damit dieser stärker werde im Glauben).
  3. Bonisierung des Leidens: Ohne Leid kommt Gutes nicht richtig zur Geltung.
  4. Yin Yang – Leiden gehört zur Lebensharmonie dazu (Daoismus/China).
  5. Funktionalisierung: Leiden gehört dazu – ohne Leiden keine Weiterentwicklung, auch keine Evolution (Wissenschaft), entsprechend ist man defizitär, unangepasst.
  6. Freiheit: Leiden als notwendige Begleiterscheinung des Bewusstseins und der Freiheit des Menschen

Religiös, zum Teil auch christlich:

  1. Solidarischer Gott: Gott ist nicht Verursacher des Leidens – er leidet aus Liebe in Jesus Christus mit.
  2. Solidarischer Mensch: Der Leidende leidet mit Gott – Jesus Christus – am Kreuz und sein Leiden bekommt dadurch Sinn: der Mensch wird leidend Gottes Eigentum, weil das Leiden den Menschen zu Gott hinführt.
  3. Jesus Christus ist Träger des Leidens – er trägt das Leiden des Menschen, damit das Leiden den Menschen nicht zerbrechen kann.
  4. Leid vereint mit Gott: Der Mensch leidet, weil Gott in Jesus Christus leidet (Ebenbild Gottes) – leiden vereint mit Gott.
  5. Ohnmacht Gottes: Gott bekämpft Leiden nicht, weil er seine Allmacht (ganz bzw. punktuell) aufgegeben hat.
  6. Gott ist abhängig von Prozessen – er versucht nur durch Selbstveränderung der Menschen einzugreifen.
  7. Es gibt keine Antwort auf das Leiden – aber: Gott liebt und will Mit-Liebende gewinnen.
  8. Dualismus/Gebrochener Dualismus: Leiden ist Folge der bösen Macht – des Gegenspieler Gottes (Teufel, Satan, Lucifer)(Hiob), böser Mächte (Geister, Dämonen,  dämonischer Mächte).
  9. Widerstand gegen Gott: Leiden ist Folge der Sünde (weltweite Sicht).
  10. Gottes Macht: Er hat das Recht, den Menschen leiden zu lassen, damit dieser sich im Leiden bewähre.
  11. Gottes Licht verdunkelt: Wenn Gottes Licht das menschliche „Auge“ trifft, ist es geblendet – und Gott wie auch das Leben erscheinen dem Menschen als dunkel.
  12. Plan Gottes zum Guten: Leiden gehört zum Leben – Gott verfolgt einen Plan (kann Böses in Gutes verändern), den der Leidende erst in der Zukunft erkennen kann. Gott erlöst vom Leiden, wenn er es für richtig hält.
  13. Wir kennen Gottes Plan mit unserem Leben nicht, aber Gottes Liebe zu uns.
  14. Ziel Gottes: Der Mensch hat mit dem Leben des Menschen ein Ziel. Der Mensch muss dieses finden – das geht vielfach nur über Leiden. Da der Mensch ohne Gott vielfach Irrwege geht – aber dadurch lernt, Gottes Weg zu gehen. Von Gott auferlegtes Leiden akzeptieren und durchleiden lernen führt zur Freiheit (christliche Mystik).
  15. Gott als Geheimnis: Das Theodizee-Problem ist unlösbar – Teil des für Menschen „dunklen“ Gottes.
  16. Gott als Widerspruch: Der Mensch in seiner Begrenztheit kann Gottes Handeln nur als Widerspruch in Gott selbst interpretieren. Der Mensch ist nicht in der Lage, Gott in seiner Weite, Einheit, Liebe, Güte zu verstehen.
  17. Klagen zu Gott: Gott allein kann diese Frage lösen – darum liegt es am Menschen, Gott immer wieder diese Frage zu stellen (Psalmen).
  18. Bitte zu Gott um Unterstützung bzw. Veränderung der Situation (Psalmen)
  19. Aktivierung durch Gott: Bis Gott die Antwort gibt: im Auftrag Gottes gegen Leiden handeln.
  20. Eschatologisierung: Einbezug der eschatologischen Perspektive (Auferstehung der Toten – Hoffnungsbilder)
  21. Beziehung zu Gott: Man lebt aus der Beziehung zu Gott und ordnet aus dieser das Leiden ein (sich in Gottes Hand legen).
  22. Die Theodizee-Frage ist selbst das Übel: Den Grund der Freiheit des Menschen hat Gott gelegt. Der Anstoß, die Freiheit zu missbrauchen, kam dadurch, dass Gottes Güte in Frage gestellt wurde: Gott will mich Menschen klein halten. Warum demütigt Gott mich? (Genesis 2f.) Damit kommt die Theodizee-Frage in den Blick. Ich traue Gott, der Güte und Liebe ist, Schlimmes zu. Dadurch geschieht erst das Übel, fügen Menschen einander Übel zu, auch, um der  Angst vor dem mir eingebildeten lieblosen Gott zu entgehen. In Freiheit sich wieder dem liebenden Gott zuwenden, lässt die Theodizee-Frage verstummen und heilt. Manches Leiden ist nur mit Gott zu bewältigen.
  23. Auserwählt von Gott: Gott hat mich ausgewählt, leiden zu dürfen: Er sieht mich als stark genug an, das durchzustehen. Wie Maria leiden musste, die Apostel… Gott lädt dem glaubenden Menschen nicht mehr Leid auf, als er tragen kann (Paulus).
  24. Stärkung durch Gott: Gott verspricht nicht, dass er uns im Leben alles erklären wird. Er verspricht uns in Jesus Christus, bei uns zu sein und uns Kraft zu geben.

Aufgabe: Welche dieser Antworten würden Sie über die genannten Beispiele hinaus mit Jesus Christus in Verbindung bringen?

Diskussion zwischen Atheismus und Christentum

  1. Soll mit Hilfe der Theodizee-Frage Gott bekämpft werden? (Die Theodizee-Frage wird von atheistischer Seite immer wieder dazu verwendet, zu sagen: Es gibt keinen Gott. – Womit die Theodizee-Frage erst verschärft wird. Das bewusst, um vom Glauben abzulenken.)
  2. Leiden ist der Fels des Atheismus (Büchner) – das heißt: die Grundlage des Atheismus.
  3. Dagegen: Glaube mit seinen Spannungen, ist nichts für Schwache.
  4. Soll mit Hilfe der Theodizee-Frage die Inkonsequenz des Glaubens begründet werden? (Es wird von atheistischer Seite erkannt, dass man Gott weder beweisen noch widerlegen kann, darum versucht man diesen Schritt: Es gibt nur Gottesbilder des Menschen – alle sind nicht beweisbar – von daher kann man nicht beweisen, ob es Gott gibt oder nicht, aber: Der Mensch kann gar nichts zu Gott sagen, also gibt es ihn nicht, da Gott sich nicht selbst zeigt.)
  5. Will man von religiöser Seite trotz der Theodizee-Frage als offene Frage Gott beweisen?
  6. Will man von religiöser Seite die Beantwortung der Theodizee-Frage offen lassen? (Gott hat Gründe, die man nicht kennt?)
  7. Frage nach Gott im eigenen Leid – der Grundlage der eigenen Existenz. Kampf um Gott – Erneuerung des Gottesbildes. Gottesbilder des Menschen sind immer im Wandel. Manchmal schmerzhaft, manchmal kaum bemerkt. Der schmerzhafte Wandel – ein Gottesbild stirbt in das auferstehend andere hinein – kann die Theodizee-Frage begleiten.
  8. Theoretischer Versuch der Erklärung: (a) Leid widerspricht der Existenz eines liebenden Gottes; (b) Leiden bedeutet, dass die Existenz eines Gottes unwahrscheinlich ist; (c) diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend, weil: a. Der Mensch kann nur darum bewusst leiden, weil er Ebenbild Gottes ist. b. Der Mensch leidet, weil die gute Ordnung durchbrochen ist – die Gott geschaffen hat.
  9. Praktische Reaktion auf die Theodizee-Frage: Nicht versuchen, Leiden zu erklären, sondern dem Leiden begegnen: psychologisch, medizinisch, sozial, umfassend seelsorgerisch… – wie Jesus Christus.
  10. Atheismus (Es gibt keinen Gott, sonst gäbe es kein Leiden) wird von manchen auch der Gottes-Apologie zugerechnet. Atheisten halten die Spannung nicht aus, den liebenden, gerechten und allmächtigen Gott mit Leiden in Verbindung zu bringen und lehnen von daher Gott ab. Glaubende versuchen nicht, Gott zu verteidigen. Die Spannung ist auszuhalten. Gott verteidigen – da würde sich der Mensch überfordern. Nur Gott selbst kann sich dem jeweiligen Menschen so mitteilen, dass er verstehen kann.

Überlegungen

  1. Zurückhaltung in der Kritik an den oben genannten Punkten („Philosophisch“, „Theologisch-christlich“), denn der Mensch kann durch die Übernahme der einzelnen Punkte – je nach Lebenssituation – in seinem Leben sein Leid verstehen, seine leidvolle Existenz bejahen. Wenn man Menschen Möglichkeiten an Antworten nimmt, fördert man ihr Leiden, weil man Sinnverlust fördert, Hoffnungslosigkeit, ihnen die Chance nimmt, hinter der absurden Welt eine gute Grundlage zu sehen.
  2. Falsche Antworten: Kein Mensch kann sagen, welche Antwort falsch oder richtig ist, weil kein Mensch über allem steht. Man kann höchstens aufgrund seines eigenen individuellen Weltbildes bestimmte Antworten als wenig plausibel ansehen.
  3. Mit oder ohne Religion: Die Frage stellt sich: Lässt sich das Problem des Leidens besser ohne oder mit Religion lösen. Auch diese Frage muss sich jeder Mensch selbst stellen. Es ist die Frage nach Gott. Aus meiner Perspektive eher mit Religion. Ohne Gott steckt der Mensch im Leiden, mit Gott hat er eine Macht, die außerhalb seiner selbst steht. Z.B. leidet der Mensch an einer Sünde, die er getan hat, möchte oder kann ihm ein anderer Mensch nicht vergeben, so kann er die Vergebung von Gott bekommen. Kann er sie sich wirklich selbst ohne Gott zusprechen? Oder muss der Psychiater an der Stelle Gottes versuchen, die Schuld „wegzureden“, „wegzudenken“, lehren, irgendwie mit ihr umzugehen? Der Schuldige wäre dann davon abhängig, ob er sich a) einen Psychiater leisten kann, b) einer zur Verfügung steht, c) ein guter zur Verfügung steht. Der Glaubende lernt im Licht Gottes damit umzugehen. Ohne a)-c). Aber da man an Gott auch aus praktischen Gründen nicht einfach so glauben kann, steht der religiöse Weg nicht jedem – zumindest kurzfristig zur Leidbewältigung – offen. Bis ihm eine Gottesbegegnung möglich ist. Es geht im Glauben um eine Beziehung zu Gott – nicht um einen Glauben, um etwas zu erreichen. Am Anfang einer Gottesbeziehung steht wohl überwiegend die Offenheit für Gott.
  4. Versuche, den anderen zu trösten, ihm zu versichern, dass man mit ihm mitleidet, auch wenn er und man selbst den Sinn nicht erkennt, weisen über das Leiden hinaus in eine geahnte/erhoffte Sinnhaftigkeit des Leidens. Soll man dem Menschen diesen Trost verweigern, wenn man selbst daran zweifelt? (Die Mutter sagt: Alles wird gut…! – oder soll sie sagen, weil sie gerade selbst irritiert ist: Kind, nichts wird gut!)
  5. Sollten wir dem Menschen ausreden: Frage nicht nach dem Warum… Ausreden mit den Aussagen: Nimm es einfach hin. Ist Schicksal…? Geht das? Kann der Mensch diese Fragen ausblenden? Warum bringen gerade Atheisten diese Fragen immer wieder an: Wirklich, um Gott zu widerlegen – oder weil sie selbst nicht klar kommen?
  6. Deutlich ist, dass auch A-Religiöse aufgrund von Leiden immer wieder auf Gott gestoßen werden. Allerdings im Widerspruch zu Gott.

Probleme, die mit diesen „Antworten“ verbunden sind

  1. Die eigene Antwort kann auf andere zynisch wirken, abstoßend – äußerst ärgerlich können andere darauf reagieren.
  2. Auch der Einbezug der Zukunft: Produktiver Umgang mit dem Leid – kann zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen als unangemessen empfunden werden.
  3. Christen können ihre Hoffnung, ihre eigenen Antworten dem anderen mitgeben – müssen aber auf entsprechende Reaktionen gefasst sein.
  4. Wenn Menschen im Leiden stecken – wie man selbst das ja auch weiß – dann sind alle Antworten banal, man steckt in der Phase, sich selbst eine Antwort zu erkämpfen. Man kommt um diese Phasen nicht herum. Es gibt keine Abkürzungen.
  5. Weil Menschen in der Phase stecken, sich eine Antwort zu erkämpfen, muss eine Hilfestellung nicht nur abschreckend wirken, sie kann auch, je nach Situation und Lage der jeweiligen Menschen als hilfreich empfunden werden.
  6. Einfach für den anderen Menschen da sein – und sensibel für ihn und seine Fragen sein – entsprechend mit eigenen Impulsen reagieren.
  7. Christen haben die Möglichkeit, den anderen im Gebet zu begleiten und auf Gottes Wirken zu vertrauen.
  8. Für einen selbst ist es wichtig, sich schon vor dem Leiden darüber Gedanken gemacht zu haben.
  9. Für einen Christen ist es wichtig, die Beziehung zu Gott vor dem Leiden zu suchen und in ihr zu wachsen.
  10. Auch Christen können am eigenen Leiden/am Leiden anderer zerbrechen bzw. stark ins Straucheln kommen, vor allem dann, wenn man mit Gott „Wohlergehen“ oder sich mit dem Selbstbild „ich bin gerecht/gut“ verbindet. Sich einüben in das Gebet: Ich lege mich in Gottes Hand muss beizeiten geübt werden.

Aufgabe 1:

Der Philosoph Odo Marquard (+2015) schrieb: „Die Antworten der Theodizee sind… durchweg unzureichend… Darum haben wohl diejenigen recht, die dem Vertrauen auf Gott, also dem Glauben das letzte Wort geben, und das nicht zu können ist dann das eigentliche Unglück.“ (Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, in: W. Oelmüller (Hg.):Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, 101f.) Auch von hier aus gesehen sind die Versuche, den Glauben zu destruieren mit Hilfe der Theodizee-Frage, was so mancher Atheist antreibt, eher dem Unmenschlichen zuzuordnen: Man entzieht Menschen die Basis ihres Lebens. Stimmst Du dem zu? Lehnst Du das ab? Begründe!

Aufgabe 2:

Wenn nach irgendwelchen schlimmen Ereignissen, in denen Menschen zu Schaden gekommen sind, Gedenkgottesdienste gehalten werden, sagen Pfarrerinnen und Pfarrer: Man kann die „Warum-Frage“ nicht beantworten. Aber der Glaube an Gott/Jesus Christus gibt Kraft im Leiden. In den Medien wird immer nur gesagt: Der Pfarrer/die Pfarrerin sagte, man könne die Warum-Frage nicht klären. Vom Kraft gebenden Glauben wird nicht geredet. Überlege:

  • Warum wird das nur verkürzt wiedergegeben.
  • Welche Folge kann das für eine Gesellschaft haben, wenn man nur hört: Man kann die Frage nicht beantworten?