Theodizee: Sophie Scholl / Weiße Rose

(Die folgende Darlegung beruht auf der Lektüre von Sekundärliteratur, die unten genannt wird. Vertiefungen zur Theodizee-Frage siehe die anderen Seiten auf evangelische-religion.de. Die Buchstaben weisen auf Autoren hin, die am Ende des Beitrags genannt werden.)

Einleitende Aspekte zur Theodizee

Es gibt in Religionen und Kulturen einen Antwort-Pool zum Thema der Theodizee – wobei deutlich sein muss, dass die Theodizee-Frage sehr häufig mit der Anthropodizee-Frage verbunden ist. Besonders viele Antwort-Möglichkeiten gibt der christliche Glaube – auch aufgrund der Leidensgeschichte Jesu. Das mag ein Nachteil sein, weil er nicht die eine Antwort an die Hand gibt – kann aber auch als Vorteil gesehen werden, wie in den folgenden Abschnitten dargestellt werden wird:

Aus diesem christlichen Antwort-Pool kann man sich rational die jeweiligen Antworten aussuchen – wohl wissend, dass die jeweiligen Antworten nicht die Lösung aller Probleme ist. Das vor allem auch darum nicht, weil nicht das „Warum“ Gott Leiden zulässt/bewirkt usw. beantwortet wird, sondern nur – aber das ist schon viel – Möglichkeiten geboten werden, mit dem Leiden umzugehen.

Von rationalen Verstehensversuchen zu unterscheiden ist die authentische Theodizee, also die Zeit, in der man mit dem Leiden welcher Art auch immer selbst verwoben ist. Dann genügen oft rationale Antworten nicht, man muss sich Antworten, die in der jeweiligen Not-Situation plausibel erscheinen, erkämpfen. Vielleicht auf der Basis der rationalen Antworten. Schmerz ist subjektiv, lässt sich nicht verobjektivieren. Und der Mensch, der Schmerz erlebt, ist ein Individuum, das diesen subjektiven Schmerz verarbeiten muss. Und viele Menschen versuchen das in ihrer jeweiligen individuellen Beziehung zu Gott.

Und die jeweiligen Antworten, die man sich für sein eigenes Leben und Leiden gibt, können andere als zynisch, als kurios, als unzureichend wie auch immer interpretieren. Man selbst bleibt ja auch nicht bei einer Antwort stehen, sondern erkämpft sich aus der Beziehung zu Gott heraus weitere Antworten, verwirft alte Antworten. Man wächst in der Auseinandersetzung mit Gott. Die Beziehung zu Gott ist lebendig, nicht statisch und starr. Sie ist Teil des Lebens.

Man kann freilich auch sagen: Lasst Gott aus dem Spiel, dann wird alles einfacher. Diese Aussage kann sowohl aus frommer Perspektive als auch aus religionskritischer Perspektive gemacht werden. Auch sie mag vielleicht den einen oder anderen in bestimmten Situationen zeitweise befriedigen. Aber der Mensch wird auch diesen Umgang mit dem Leiden als unzureichend und wenig hilfreich ansehen. Welche Antwort auch immer erkämpft wurde, sie ist nur als Durchgangsstadium zu weiteren Versuchen, das Leiden einzuordnen, anzusehen.

Biographische Anmerkungen zu Mitgliedern der Weißen Rose

Wie unterschiedlich Menschen mit dem Leiden umgehen können, ist an der Familie von Sophie Scholl bzw. an Sophie Scholl selbst zu sehen. Inge (*1917), Hans (*1918) und Sophie (*1921) Scholl sind vom National-Sozialismus begeistert. Er eint das Volk, er fördert die positiv verstandene (Bildungs-) Elite, er sorgt dafür, dass alle teilen müssen, alle sind gleich viel Wert (die zum Volk gehören) – und so versuchen sie, den National-Sozialismus zu leben und auch als Leiterinnen/Leiter der Jugendgruppen (Hitler Jugend [HJ]) zu fördern und zu verbreiten. Wobei sie von der bündischen Jugend (dj. 1.11 [Deutsche Jungenschaft]) ausgehend nicht nationalsozialistisch orientiert waren, dann aber durch den Eingang der bündischen Jugend in die HJ immer stärker nationalsozialistisch indoktriniert wurden. Ohne zu ahnen, dass er nicht dem entspricht, was sie sich von ihm erträumen. Das wird ganz deutlich: Der National-Sozialismus hat ermöglicht, dass es Mädchengruppen gab, die auch Sport trieben usw. Diese emanzipatorische Seite hat großen Eindruck auf Sophie Scholl gemacht – darum habe ich eingangs Sozialismus von national getrennt, um das emanzipatorische Element hervorzuheben – aber dass er anderes im Sinn hatte mit den Frauen, das wurde der Jugendlichen zum frühen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Zudem: Kirche und Nationalsozialismus gehörten einfach zusammen, weil sie es als Kinder und Jugendliche durch die nationalsozialistischen Pfarrer auch so erlebt haben. Bis ihnen dann langsam die Augen geöffnet wurden – nicht zuletzt durch Otl Aicher (1922-1991), der als (freier) Katholik das Übergriffige des Nationalsozialismus kennen gelernt hatte und von Anfang an massiv Widerstand leistete – schon als Jugendlicher. Er wurde durch Werner Scholl (1922-1944) in die Scholl Familie eingeführt und half den Geschwistern Scholl die Augen zu öffnen, indem sie eine neue Basis bekamen: Reflexion über den christlichen Glauben.

Der Einfluss freier katholischer Intellektueller auf die Geschwister Scholl

Zudem kamen sie mit anderen katholischen Personen zusammen, die sie in ihrer Aversion gegen den Nationalsozialismus stärkten (Carl Muth [1867-1944], Kurt Huber [1893-1943], Alfred von Martin [1882-1979], Theodor Haecker [1879-1945: „Ich habe nicht die Macht zu verhindern, dass heute das Gesindel die Welt regiert, aber gegen eines kann ich mich Gott sei Dank doch wehren, so schwach ich auch bin, dass mir nämlich Gesindel die Welt erklärt.“]…). Parallel zum Nachdenken und Wachsen im christlichen Glauben veränderte sich die Haltung zum Nationalsozialismus. Zu  beachten ist, dass Otl Aicher in seiner Biographie nicht christliche Theologen, sondern Nietzsche betont. Aicher vertritt eher eine rationale Form des Glaubens, während die emotionale Form des christlichen Glaubens in der Verbindung mit Sophie Scholl eine größere Rolle spielt (O.A. 75ff.). Aicher beschreibt später, dass unter anderem Augustinus das Denken auch von Sophie geschärft hat, es zur Autonomie geführt hat, „die es uns erlaubte, gegen eine ganze welt zu stehen, wenn wir uns im einklang mit uns selbst fühlten“ – was dann auch dazu führte, Augustinus und seine Sicht vom Staat – mit Blick auf den Nationalsozialismus – zu kritisieren (O. A. 173 f.).

Die Menschen im Umfeld der Weißen Rose wie die Mitglieder selbst haben sich kein völkisches Schuldgefühl einreden lassen. Ebenso haben sie ihren Widerstand nicht in Frage gestellt in dem Sinne: War es wirklich Gottes Wille, denn er hat uns nicht beschützt… Sie waren sich trotz ihres Leidens sicher, das getan zu haben, was Gott gemäß war.

Das Thema Leiden wird durch die Geschwister Scholl zunächst nicht rational intensiver wahrgenommen. Der Krieg kommt näher. Man beschäftigt sich theoretisch – und ohne zu wissen auf das Kommende vorbereitend – mit dem Thema Gott und damit auch mit dem Thema Leiden (Bibel, Augustinus [354-430] ist dafür besonders relevant, Dostojewski [1821-1881], aber auch die katholische Reformbewegung: Paul Claudel [1868-1955], George Bernanos [1888-1948], Jacques Maritain [1882-1973]…, sowie Sören Kierkegaard [1813-1855], Blaise Pascal [1623-1662], aber auch John Henry Newman [1801-1890] und moderne Christen: Romano Guardini [1885-1968], Werner Bergengruen [1892-1964; der auch Blätter der Weißen Rose  und Predigten des Bischofs von Galen in Briefkästen verteilte], Manfred Hausmann [1898-1986], Hans Carossa [1878-1956], Reinhold Schneider [1903-1958] usw. Wen sie wohl nicht intensiver wahrnehmen konnten, sind die protestantischen Kritiker nationalsozialistischer Ideologie: Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Paul Schneider, Martin Niemöller, Julius von Jan… Versuche, den Widerstand national zu erweitern durch Kontaktaufnahme, gab es (z.B. Falk Harnack).

Leiden und die Mitglieder der Weißen Rose

Aufgabe: Gib den jeweiligen Abschnitten eine Überschrift mit Blick auf die Theodizee-Frage!

1.

Die Mutter, Magdalena/Lina Scholl (geb. Müller) (1881-1958) sieht all ihre Kinder in den jeweiligen Auf und Abs – aber sie hält daran fest, dass dieses alles zu einem Plan Gottes gehört. Man kann den Plan Gottes nicht durchschauen, wenn man im Leiden steckt – aber es muss einen Plan geben, den man irgendwann erkennen kann und dann wird man dankbar auch auf das Leiden zurückblicken. Das Leiden, das Rätseln, die Fragen kann man durchstehen, weil Gott Kraft dazu gibt. Man kann sich Gottes Geist erbitten, den Geist der Freude, trotz des Schmerzes (12.6.1943). Für sie bringt das Halten an Gott auch Freiheit. Man muss nicht im Leiden, das man nicht ändern kann, versinken. Gott macht frei, über dem Leiden zu stehen. Sie schreibt 1937 Hans Scholl: „laß Dich fallen in Gottes Arme, die der größten Not gewachsen sind u. stark genug, Dich nicht ins Dunkel fallen zu lassen.“ (Zoske 85)

2.

Der Vater, Robert Scholl (1891-1973) geht anders mit dem Leiden um. Er kann die christliche Perspektive nicht übernehmen und sieht alles aus einer „liberalen“ Perspektive: Am Ende des Lebens kommt es darauf an, was man mit dem Leben gemacht hat, schreibt er. Was die Weltgeschichte betrifft: Eine Kraft treibt den menschlichen Geist immer weiter nach vorne zum humanen Miteinander – und das Leiden das die nationalsozialistische Gegenwart verursacht, ist Rückschritt, die das Vorwärtsgehen letztlich aber nicht verhindern kann (Brief vom 13.6.1943 und 12.6.1943, die Tochter Inge sieht das anders: 12.6.1943: Immer ein Ringen zwischen Licht und Finsternis – aber das Licht wird immer die eigentliche Macht haben). In diesem Zusammenhang gehört auch die Erkenntnis: „In der Erkenntnis der letzten Dinge, d.h. der Wahrheit darf man überhaupt sich nie fertig fühlen. Denn das wäre Überheblichkeit. An die Grenze der Erkenntnis kann nur ein vollkommener Geist gelangen und das ist kein sterblicher Mensch.“ (24.8.1943) Allerdings kennt auch er das Gebet, das ihn mit den hingerichteten Kindern verbinden kann. Robert Scholl war 1942 für einige Monate inhaftiert, weil er Hitler als Geißel Gottes bezeichnet hatte und war 1943 mit seiner Frau Magdalena und der Tochter Inge in „Sippenhaft“, aus der Briefe veröffentlicht wurden.

3.

Inge Scholl lebte immer zu Hause, sie geht ihrer geplanten Arbeit im Finanz-Büro des Vaters nach. Sie war dominant – aber sie hatte Angst vor dem Leben als Leben (so die Einschätzung von O.A. 108). Sie hatte kluge, aus der Tradition übernommene aber ins eigene Leben überführte Antworten zur Gottesfrage. „das leben dachte in ihr, nicht die vernunft“ (O.A. 106) Ihre Antworten gab sie an die Geschwister, die in den jeweiligen Leidensprozessen stehen, weiter. Für diese sind die Antworten vielleicht nicht hilfreich (aber doch weiterführend?), weil sie sich diese Antworten ihrer Schwester Inge in ihrem persönlichen Leiden nicht erkämpft haben. Wobei der Glaube in der geschwisterlichen Korrespondenz (Hans, Inge, Sophie eine große Bedeutung hat, somit das Gefühl des Getragen-Werdens durch den Glauben anderer sich einstellen konnte [B. 283]). Inge schreibt Sophie zum Beispiel, als sie viel Druck aushalten muss: „Gott wird Dir den starken, gesunden und frohen Gegendruck geben gegen das, was auf Dich drückt…. Denke viel an ihn und an Dich selbst, oder besser gesagt: über Dich selbst zu ihm hin.“ (B. 331) Inge verinnerlichte die Antworten aus der Tradition in einer religiös-mystischen Weise (Brief vom ? – Seite 70): „Mein Gebet möge ein Mantel um ihn und ein Licht in ihm sein“ – „Ich weiß, dass Gott diese Gebete erhört“ (ohne Datum Seite 32 – die Intention Fritz Hartnagels aufgreifend, der schrieb: „dass unsere Gebete Eure Herzen in jene Freiheit emportragen möchten, die uns nicht mehr genommen werden kann“ (ohne Datum Seite 29). Wie kam es bei ihr dazu, dass der Glaube persönlich wurde? „Aber mit der Zeit, dem Sprung in Gottes Arm, mit dem Ja zu dem, gegen das ich so ratlos war, habe ich es begriffen.“ (B. 337)

4.

Hans Scholl, Medizinstudent/Sanitäter, geht wieder ganz anders mit Leiden um. Er hatte immer wieder einmal christliche Texte formuliert, so in einem Gedicht 1938, in dem es um das Abendmahl ging: Gott – „Du schenktest in Gnade die Fülle, /  lebendigen Christus aus dir.“ (Zoske 246). Er hatte wohl 1941 eine Audition („eines Tages ist dann von irgendwoher die Lösung gefallen. Ich hörte den Namen des Herrn und vernahm ihn.“ [22.12.1941]) – was er erlebt hat, ist nicht mehr deutlich – und danach hat er das Beten wieder gelernt – das heißt, es ist für ihn die „Quelle der Kraft“ (25.1.1942). Am 7.12.1941 schreibt er: „Ich will weit gehen, so weit als möglich, auf den Bahnen der Vernunft; jedoch ich erlebe, wie ich ein Geschöpf aus Natur und Gnade bin, einer Gnade allerdings, die die Natur voraussetzt.“ (Das heißt: Gott handelt in seiner Gnade mit dem jeweiligen Individuum, das aus seinen je eigenen biologischen und psychologischen Besonderheiten besteht.) Er sieht vor allem auch aus den Erfahrungen des Russlandfeldzuges heraus: Gottlose bringen das Leiden über die Welt und er hofft, dass sie beseitigt werden, damit eine religiöse Erneuerung stattfinden kann (31.7.1942). Leiden ist die Voraussetzung für die Wiedergeburt (Taufmetapher) (24.8.1942), schon Mai 1941: „Aus Trümmern steigt der junge Geist empor zum Licht“ – oder der Tod ist die Voraussetzung dafür, dass Leben wertvoll ist (2.9.1942). Oder mit Weihnachten 1941 gesprochen: „Je dunkler die Schatten über eine Epoche hereinfallen, desto größer wird die Sehnsucht einzelner Menschen nach dem Lichte…: Christus… Unser ganzer Hintergrund und unser Wegweiser und Ziel ist Er.“ (21.12.1941) Und dann kommt das Engagement gegen das, was leiden lässt – die nationalsozialistische Ideologie: Es sind die Flugblätter zu nennen. So heißt es im 4. Flugblatt (Juli 1942) http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61022/flugblatt-iv ): Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst. Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, dass ein anderer die Waffen erhebt, um Dich zu verteidigen? Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.

Und als Zitat von Novalis: Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und das Völkerrecht sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr friedenstiftendes Amt installieren.

Hans Scholl war sehr intensiv im christlichen Glauben eingetaucht (B. 383): Das Leben ist ein großes Abenteuer zum Lichte hin (ein Wort von Claudel franz. zitierend [16.2.1943]). Vor seiner Hinrichtung am 22.2.1943 wählte sich Hans Scholl den Psalm 90: „Herr, du bist meine Zuflucht für und für…“ und er spricht zusammen mit Pfarrer Alt den Text des Paulus aus dem 1. Korintherbrief 13 mit den berühmten Schlussworten: Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe…

Nach dem Tod von Hans Scholl fand sein Bruder eine Notiz auf dem Schreibtisch seines Bruders: „`O Kreuz, du bleibst noch lange das Licht der Erde.´ Der Glaube an das Kreuz Christi und sein Licht waren für Hans Scholl von richtungsweisender Bedeutung. Er handelte Christus vor Augen und nur Gott verantwortlich.“ (Zoske 221; derselbe auch zur Bedeutung von christlichen Aussagen von Berdjajew – 124 – und Thomas Mann – 132 – für Scholl)“

5.

Sophie Scholl versuchte seit ca. 1938 ihrem Freund/Verlobten Fritz Hartnagel (1917-2001), der im (Vor-)Kriegseinsatz steht, von sicherem Ort aus ihn mit Glaubensthemen herauszufordern (B. 249; 250f.). Er versteht es erst nicht – arbeitet sich aber dann doch zu einer Lösung aus christlicher Perspektive durch, die für ihn wichtig ist und wird fester im Glauben. Und als er mit seiner Truppe in Stalingrad war, schrieb er: „Und wenn wir unsere Hoffnung nicht an dieses Leben hängen, was kann uns da schon genommen werden? Ich will beten in diesen Tagen und nochmals beten, und auch Du und alle Lieben sind darin innigst eingeschlossen…“ (17.1.1943; B. 413). (Siehe auch unten.)

Dann, als Sophie Scholl selbst leiden musste, weil sie nach der Schule in den Reichsarbeitsdienst „eingezogen“ wurde und durch die Umstände Unfreiheit spürte, kommt sie mit den alten Antworten ihres Lebens – damit zusammenhängend auch zum Thema Gott und Leiden – nicht mehr klar. Sie ringt und kämpft, sie zweifelt (B. 318) – und erkämpft sich vorläufige Antworten. Sie kämpft gegen die Sicht: Gott ist fern, er ist ungerecht – er darf nicht zulassen, dass der Mensch sich an der Natur – eines lebt vom anderen – ein Beispiel nimmt (O.A. 83). Sie erkämpft sich die Erkenntnis, dass sie früher den Geist betonte, den Verstand, während ihre Seele verhungerte (10.12.1941). Sie suchte ihre Seele in ihrer Traurigkeit an Gott anzulehnen (O.A. 76). Ihrer Seele gab sie, so gut sie konnte Nahrung, indem sie in die Kirchen ging und Orgel spielte (und malte) – und Augustinus las. Diesen Durchbruch hatte sie Karfreitag/Ostern 1941. Das Wort des Augustinus begleitete sie durch alle kommenden Kämpfe: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir“ (B. 404).  Ihre Gebete sprechen eine große Leidensbereitschaft aus: „Tue mit mir nach deinem guten Willen.“ (15.7.1942; vgl. Ende Juni 1942) Ihr Problem ist allerdings nicht nur die Theodizee, sondern die Anthropodizee: Menschen fügen allem Leiden (Natur und Menschen) zu – und aufgrund dieses Leidens und Mitleidens spürt sie Gott nicht mehr (10.10.1942). Gott ist für sie Realität – die sie spürt – aber das, was sie von ihm glaubt, von ihm zu wissen meint, passt nicht mit der Realität zusammen. Sie kann das als richtig Erkannte nicht in ihrem Leben umsetzen (6.8.1942). Hier Übereinstimmung zu finden, darum ringt sie: „Warum sollte ich an einer Wahrheit zweifeln, bloß weil sie mir noch verborgen ist?“ (9.10.1942 – zu dem Ringen: B. 357) Glaube und Denken standen für sie am Ende des Ringens nicht im Widerspruch (B. 403). Es geht um eine Verinnerlichung Gottes (O.A. 76). Sie schrieb am 18.11.1942 – in einer Zeit, in der die Flugblätter konzipiert und verteilt wurden und alles, was damit an Bedrohung, Aufregung zusammenhing – : „Ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat“ – selbst dann, wenn sie mit ihren erstarrten Händen nichts mehr fühlt (B. 385). Gleichzeitig ist aber Gott ganz normaler Teil des Alltags (M.G. 181, 190). Und ein Wort des Paulus aus dem Römerbrief Kapitel 8 wurde in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wichtig: „Ja wir glauben auch an den Sieg der Stärkeren, aber der Stärkeren im Geiste“ – im Kontext, in dem Paulus vom Wirken des Geistes Gottes geschrieben hat (28.10.1942). Das letzte gesprochene Wort, das wir von Sophie Scholl kennen ist: Ihre Mutter sagte ihr beim Abschied am 22.2.1943: „aber gelt, Jesus“ bzw. „Gelt Sophie, Jesus! – und Sophie antwortete: „ja – aber Du auch“. Das heißt: auf Jesus schauen, angesichts des Todes – aber die Mutter soll auch in ihrer Trauer auf ihn schauen. Die Mutter Lina beurteilt den letzten Kontakt unter anderem so: „Das Göttliche war ihnen [Hans und Sophie] Tröstung und Willkommen.“ (M.G. 240)

6.

Werner Scholl der jüngere Bruder, hatte sich geweigert, in die Hitler Jugend einzutreten, wurde darum auch nicht zum Abitur zugelassen. Er war es, der schon 1939 (also mit 17 Jahren) in einer Nacht der Justitia in Ulm eine Hakenkreuzbinde über die Augen gebunden hat. Er war eingezogen worden und kam nur sehr schwer mit dem, was er erlebte, zurecht. Sein Halteseil war der Glaube an den „großen Tröster“, der alles Ungemach „durch ein überirdisches Licht tausendmal aufgehoben hat.“ (B. 374) Er sieht sich in der Tradition der Pilgerschaft der Heiligen drei Könige, „die ihren Stern erblickt haben“ (B. 393). Werner Scholl wird seit Juni 1944 in Russland vermisst.

7.

Alexander Schmorell (s. Moll) hat zusammen mit Hans Scholl Flugblätter hergestellt und wurde hingerichtet – nur ein paar Monate später. Er schreibt:

bedenkt doch, dass `Tod´ nicht das Ende jeden Lebens bedeutet, sondern eigentlich im Gegenteil – Geburt, Übergang zu neuem Leben, einem herrlichen und ewig dauernden Leben! Der Tod hat also nichts Schreckliches. Hart und schwer ist die Trennung. Aber sie wird weniger hart und schwer bei dem Gedanken, dass wir uns ja nicht für ewig trennen, sondern nur für eine Zeitlang, wie für eine Reise, um uns dann für immer und ewig zu treffen, in einem Leben, das unendlich schöner ist als das jetzige und dass es dann für das Zusammensein kein Ende gibt.“ (30.5.1943) Am 5.6. schrieb er: „Vergesst die Hoffnung auf ein Wiedersehen hier auf Erden oder drüben in der Ewigkeit nicht. Gott lenkt alle Dinge so, wie er es will, und wie es zu unserem Besten ist, wir müssen uns immer nur voller Vertrauen in seine Arme geben – er wird uns dann niemals verlassen, immer helfen und trösten.“ (Als Anmerkung: Es gab Überlegungen zur Flucht, die Schmorell aber verweigerte, weil er andere gefährdet hätte.) (526)

In einem Brief am 2.7. – wenige Tage vor der Hinrichtung – schrieb er: „Dieses ganze harte `Unglück´ war notwendig, um mich auf den wahren Weg zu bringen – deshalb war es eigentlich gar kein Unglück. Vor allem bin ich froh und danke Gott dafür, dass es mir gegeben war, diesen Fingerzeig Gottes zu verstehen und dadurch auf den rechten Weg zu gelangen. Denn was wusste ich bisher vom Glauben, vom wahren tiefen Glauben, von der Wahrheit, der letzten und einzigen, von Gott? Sehr wenig!… Ich hoffe, dass auch Ihr eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habt und dass Ihr mit mir zusammen nach den tiefen Schmerzen der Trennung auf dem Standpunkt angelangt seid, wo Ihr für alles Gott dankt.“ (528)

In seinem letzten Brief, kurz vor der Hinrichtung schrieb er unter anderem: „Eins vor allem lege ich Euch ans Herz: Vergesst Gott nicht!!!“ (530)

Es wird deutlich, dass jeder von den Genannten einen eigenen Weg gegangen ist. Schmorell war orthodoxer Christ, der soweit ich es sehen kann, sich nicht viel mit dem Thema Glauben beschäftigt hatte, aber doch im orthodoxen Gottesdienst seine Heimat gefunden hatte, bzw. sich dahin sehnte (die westliche Form des Christentums war ihm „nicht warm, nicht liebevoll genug“; 279). Und in der Zeit seiner Inhaftierung hat er einen neuen Zugang zu Gott gefunden, einen Zugang, der an das Buch Hiob erinnert. Auch Hiob erkennt, er hatte von Gott vom Hörensagen gehört – aber noch nicht selbst wahrgenommen. Doch dann erkannt.

8.

Christoph Probst wurde 1919 geboren und am 22.2.1943 zusammen mit Hans und Sophie Scholl hingerichtet.

In dem Buch von Moll stoßen wir auf Seite 210 auf eine Sicht von Probst zum Thema Leiden. Probst war nicht unbedingt christlich eingestellt. Dann wandte er sich wohl ab 1942 immer stärker dem christlichen Glauben zu. Er hatte zu Weihnachten 1942 eine Art Vision während der Weihnachtsmesse, wie seine Frau mitteilte. Ob sein Schwiegervater Dohrn zu seiner Hinwendung zu Jesus Christus beigetragen hat, ist nicht bekannt. Harald Dohrn wurde auch von den Nazis hingerichtet – am 29.4.1945: „Denn das Leid bereitet einen neu für die Freude, es läutert einen, vertieft Dich und macht Dich stark dem Leben gegenüber.“ Und: „Versuche auch das Leid lebendig zu tragen, nimm es ohne Angst gelassen hin, sage Dir immer wieder, dass es nicht umsonst gelitten wird, dass es genauso von Gott gesandt ist wie die Freude, dass es Dich nicht nur auf dieses spätere Erdenleben bereitet sondern auch auf das Leben nach dem Tod!“ (210)

Kurz vor seiner Hinrichtung sagte er zu seiner Mutter: „Ich danke Dir, daß Du mir das Leben gegeben hast, wenn ich es recht überblicke so war es ein einziger Weg zu Gott. Da ich aber nicht weit gehen konnte, springe ich das letzte Stück hinweg.“ (248f.)

Von großer Tiefe ist der Brief, den er am 18.12.1942 seinem (Halb-)Bruder Dieter Sasse geschrieben hat. Ich kann ihn hier nicht insgesamt wiedergeben. Daraus ein paar Zeilen: Weihnachten „soll auch so ein Freudenfest sein, an dem man voll Dankbarkeit der Güte des Schöpfers dankt, dass er uns Christus gesandt hat, durch den wir wissen, dass unser Leiden unser Leben einen Sinn hat, der uns ein Leben vorgelitten hat aus reinster Güte, der das Leid verständlich gemacht hat und geheiligt hat, der uns auf das Leben nach dem Tod gewiesen hat, der die Liebe predigte, die wahre Verbrüderung der Menschen, der uns das Brot des Lebens gebracht hat und an dem es keinen Zweifel gibt.“ (848)

Kurz vor der Hinrichtung soll er zu Hans und Sophie gesagt haben: „In wenigen Augenblicken sehen wir uns in der Ewigkeit wieder.“ (Bald/Knab 63)

Christoph Probst hat sich auf diese Weise mit dem Leiden beschäftigt und Kraft im Glauben gefunden. Wir haben schon Familienmitglieder der Scholls kennen gelernt, die je auf ihre individuelle Weise Halt im Glauben gefunden haben – bzw. Gott hat ihnen ermöglicht, jeweils für ihr individuelles Leiden an ihm Halt zu finden. Die Konstante ist Gott – in seiner jeweils individuellen Zuwendung zu den Menschen.

9.

Kurt Huber war Philosoph, Psychologe, Musikwissenschaftler – Professor an der Uni München. Als Katholik wurde er argwöhnisch beäugt und als der NSDAP feindlich eingeordnet. Hans Scholl und Alexander Schmorell nahmen Kontakt zu ihm auf und das 5. vor allem aber das 6. Flugblatt der Weißen Rose geht mit auf ihn zurück bzw. wurde maßgeblich von ihm formuliert. Kurt Huber wie auch Alexander Schmorell wurden am 13.7.1943 enthauptet.

Neben den folgenden privaten Formulierungen seines Glaubens hat er sich zum Beispiel auch intensiv sachlich mit Leibniz und das Christentum in Europa befasst.

Der Gefängnispfarrer schrieb Clara Huber nach der Hinrichtung ihres Mannes: „Es war sein besonderer Stolz, daß er vor dem höchsten Gericht, dem Volksgericht, erklären durfte, daß die von ihm sorgsam beobachtete Entwicklung mit seinem Christentum nicht mehr vereinbart werden konnte. Fortan nahm ihn die Gestalt Christi immer mehr gefangen… Oftmals suchte und fand er Trost und Sicherheit in den heiligen Mysterien unseres Glaubens. Wie auf dem Gebiete der Natur so war ihm auch in der Übernatur alles klar und durchsichtig. Christus war ihm Weg, Wahrheit und Leben geworden.“ „Er hatte den festen Glauben im Herzen, daß sein Tod nur Durchgang zum Leben sei.“ (64)

In einem Auszug aus einem Gedicht von ihm heißt es (55f.): „Was wär der Mensch, wenn ihn / Nicht hart das Böse streifte, / Wenn er, von Leid durchwühlt / Nicht doch zum Guten reifte? / Er wär nicht Mensch, er wär / Ein Spielball der Natur, / Am Bösen lernend fühlt / Er mählich Gottes Spur.

Ihm war gewiss, dass er nach seinem Sterben weiterleben und den Lieben verbunden bleiben würde. So schrieb er auch am 13. Juli 1943: „Herr, o Herr, ich bin bereit, / reis an Deiner Freundeshand / Fröhlich in die Ewigkeit! / Segne unser deutsches Land, / Segne Frau und Kinder mein, / Tröste sie in aller Pein, / Schenk den Liebsten Du hinieden / Deiner Liebe Gottesfrieden!

10.

Hans Leipelt (*21.7.1921) hat in München studiert als er an das 6. Flugblatt der Weißen Rose gelangt war. Er hat es dann mit Marie-Luise Jahn nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst mit der Überschrift versehen: „… und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ Sie brachten es nach Hamburg, vervielfältigten und verteilten es dort. Er sammelte zudem mit anderen Geld für die Witwe von Kurt Huber, wurde denunziert, am 8.10.1943 verhaftet, verurteilt und am 29. Januar 1945 hingerichtet. Seine Mutter, Katharina Leipelt, war Jüdin und wandte sich laut Alt dem Christentum zu und war „tiefgläubig“. Sie wurde verhaftet und nahm sich – zumindest lautet das offiziell so – das Leben (9.12.1943), nachdem sie erfahren hatte, dass sie nach Auschwitz deportiert werden sollte. Was Hans Leipelt mitgeteilt worden war.

Während seines Gefängnisaufenthaltes hat er sich intensiv dem christlichen Glauben zugewendet. Wie er selbst sah, gab ihm der Gefängnisaufenthalt die Möglichkeit, mit Gott allein zu sein. Das habe er gebraucht. Zu seinem letzten Abendmahl wählte er aus Lukas 21 den Text aus, in dem Jesus spricht: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht. … wisset, daß das Reich Gottes nahe ist. Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.“

Als Lieblingslied betete er: „Die auf der Erde wallen,/die Sterblichen sind Staub…“. Ich habe das Lied im Internet nicht gefunden. In dem Gesangbuch der Landeskirche Hessen von 1924 wird es noch genannt. Ich werde es hier nicht als Ganzes hineinsetzen – aber nur ein paar Aspekte daraus zum Thema Theodizee nennen: Menschen sterben. Gottes Kinder gehen getrost den Weg in den Tod: „Herr über Tod und Leben, / o dann verlaß mich nicht.“ Die letzten drei Strophen: „Hilf, Todesüberwinder / hilf mir in dieser Angst, / der du zum Heil der Sünder / selbst mit dem Tode rangst; / und wenn des Kampfes Ende / gewaltiger mich faßt, / nimm mich in deine Hände, / den du erlöset hast. / Des Himmels Wonn und Freuden / ermißt kein sterblich Herz; / o Trost für kurzes Leiden, / für kurzen Todesschmerz! / Dem Todesüberwinder, / sei ewig Preis und Dank; / Preist ihm, der für uns Sünder / den Kelch des Todes trank! / Heil denen, die auf Erden / sich schon dem Himmel weihn, / die aufgelöst zu werden, / mit heilger Furcht sich freun! / Bereit, es Gott zu geben, / wenn er, ihr Herr, gebeut, / gehn sie getrost durchs Leben / hin zur Unsterblichkeit.“

In dem Buch von Alt finden wir auch den Abschiedsbrief, den Hans Leipelt seiner Schwester Maria (die 9.11.1943 verhaftet worden war, aber am 14. April 1945 in Bayreuth von der US Armee befreit wurde) geschrieben hat. Daraus folgender Auszug: „Und doch, Liebes, bleibst Du nicht allein zurück. Abgesehen  davon, daß ich gute Menschen weiß, die nach dem Kriege ihr  Möglichstes tun werden, Dich zu finden und Deine Existenz zu  sichern, bleibst Du in der Hand Gottes zurück, in der ich Dich  getrost lasse – hält er uns doch alle in seiner Hand, schützt und  erhält uns, und wo er uns diesen Schutz, diese Erhaltung zu  versagen scheint, muß uns doch auch das, und gerade das, zum  Besten dienen. Dieses Zutrauen zu ihm dürfen, ja müssen wir  haben, auch wenn wir seine Wege einmal nicht verstehen und  vielleicht sogar hart finden. Ich bitte Dich, und werde in diesen  letzten Stunden für Dich darum beten, daß Du Dir dieses Vertrauen zu Gott Dein ganzes Leben lang erhalten möchtest. Sei  meinetwegen nicht traurig, wenn Du kannst, und jedenfalls unbesorgt. Ich fühle im wahrsten Sinne des Wortes göttliche Ruhe  in mir und sterbe ohne Angst in der Hoffnung auf Gottes Vergebung, die mir freilich bitter notwendig ist, bedenke ich, in wie  schwerer Weise ich mich an ihm  versündigt habe.“

10.

Willi Graf (* 2. Januar 1918) ist katholisch geprägt worden. Seine Erziehung sieht er kritisch: „Urteilskraft und lebendige Überzeugung aber haben wir nicht mitbekommen, um eventuell in der Lage zu sein, diese Weltanschauung zu verteidigen… In Wirklichkeit ist Christentum ein viel schwereres und ungewisseres Leben, das voller Anstrengung ist und immer wieder neue Überwindung kostet, um es zu vollziehen.“ (6.6.1942). Er macht sich selbst viele Gedanken: „Gerade das Christ-Werden ist vielleicht das allerschwerste, denn wir sind es nie und können es höchstens beim Tode ein wenig sein.“ (15.6.1941) Er ist im Saarland aufgewachsen und war trotz des Drucks nicht in der Hitlerjugend, aber der katholischen Jugendarbeit treu. Er begann sein Medizinstudium, wurde wegen „bündischer Umtriebe“ inhaftiert, wurde von der Wehrmacht eingezogen, kam als Mediziner an die Uni München und somit in Kontakt mit der Weißen Rose. Er wirkte als Teil des inneren Zirkels politisch mit, hatte auch Teil an den religiösen Gesprächen, profitierte auch von der Literatur, die sie lasen – war aber schon vorher von der katholischen Jugend geprägt, zum Beispiel von Guardini. Er wurde kurz nach Hans und Sophie Scholl zusammen mit seiner Schwester, an die viele der folgenden Briefe gerichtet waren, festgenommen. Er wurde im April zum Tode verurteilt, wurde aber nicht sofort hingerichtet, weil die Gestapo Informationen über „Mittäter“ erfahren wollte. Seine Schwester Anneliese hat nach dem Krieg Briefe und Aufzeichnungen herausgegeben.

Als er 1943 in Haft war, schrieb er: „Mit dem Tod beginnt erst unser wahres Leben, diese Gedanken sind mir immer schon vertraut gewesen und waren und sind mir bewußt. Euch aber bleibt alles Leid und der Schmerz, aber der Glaube und das Gottvertrauen muß Euch Stärke und Kraft bringen…“ (8.5.1943) Dass in Gottes Hand das Schicksal liegt gibt Mut „alles andere daneben wird ja so unwichtig und bedeutungslos“ (1.8.1943), ähnlich schrieb er am 9.10., fügte aber noch hinzu: „Das Bewußtsein dass wir in Seiner Hand sind, wächst eigentlich erst recht im Leid und manchmal ahnen wir Seine Nähe ganz besonders“. Aber er muss sich dazu immer wieder durchringen: „Das zu ertragen ist nicht leicht, aber mit seiner (sc. Gottes) Hilfe wollen wir es immer wieder versuchen“ (26.9.1943). Schon Ende 1941 formulierte er in einem Brief aus Russland, dass man in aller Sinnlosigkeit bestehen müsse, dass man den Sinn suchen müsse – aber dass man ihn erst im Tod finden wird (30.12.1941). Diese Ahnung von Sinn wird in seinen letzten Briefen immer deutlicher. Am 10.9.1943 kommt seine Sicht sehr ausführlich zum Tragen, indem er sein Leiden, sein Kreuz mit dem Kreuz Jesu verbindet und „fast froh“ ist, nachzufolgen. „Wir wollen versuchen, dieses Kreuz nicht nur einfach zu ertragen, sondern zu lieben und immer vollkommener zu leben im Vertrauen auf Gottes Ratschluß.“ Der Tod ist nicht das Ende, „sondern ein Durchgang, das Tor zum wahren Leben.“ In seinem letzten Brief weist er auf die Arie von Händel, Messias hin: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebet.“ und übergibt Psalm 90 als eine Art Vermächtnis – denn in allen Briefen bezieht er die Adressaten mit ein: Wir. So auch in diesem letzten Brief: „Wir werden uns wiedersehen am Thron des Ewigen.“ Am 12.10.1943 wurde er hingerichtet.

Literatur:

  1. B = Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie, Insel Verlag Berlin, 2. Auflage 2017 (1. Auflage 2010) (insel taschenbuch 4049)
  2. M.G. =  Maren Gottschalk: Schluss. Jetzt werde ich etwas tun. Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2012/2016
  3. O.A. = otl aicher: innenseiten des krieges, Fischer Verlag Frankfurt/M. 3. Auflage 2011 (1. Auflage 1998)
  4. Daten vor 18.2.1943: Inge Jens (Hg): Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Fischer Taschenbuch Verlag, 9. Durchgesehene Auflage 2005 (1. Auflage 1984)
  5. Daten nach 12.4.1943 = Inge Aicher-Scholl (Hg.): Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 1993
  6. Inge Scholl: Die Weiße Rose, S. Fischer Verlag Frankfurt, erweiterte Neuausgabe 1994
  7. Zu Christoph Probst und Alexander Schmorell: Christiane Moll (Hg): Alexander Schmorell, Christoph Probst. Gesammelte Briefe, Lukas Verlag Berlin 2011
  8. Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, Oldenbourg Verlag, München 2013 Qellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 94)
  9. Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens (Hgs.): Willi Graf. Briefe und Aufzeichnungen, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1988
  10. Hans-Joachim Seidel: Hans Scholl und die Bündische Jugend, Verlag Klemm und Oelschläger, Ulm 2017
  11. Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, Verlag C.H. Beck München 2018
  12. Detlef Bald/Jakob Knab (Hgs.): Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, klartext-verlag Essen 2012
  13. Karl Alt: Überschreiten von Grenzen, Hg. v. Werner Reuter, Verlag Ökologie und Pädagogik München, überarbeitete Neuauflage 1994 (1. Auflage: Todeskandidaten, 1946)
  14. Zu Werner Scholl auch: http://www.spiegel.de/einestages/hinrichtung-von-hans-und-sophie-scholl-erzogen-zum-widerstand-a-951049.html
  15. Marie-Luise Schultze-Jahn: „… und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ Widerstand im Zeichen der Weißen Rose, Metropol Verlag 2003 (Bibliothek der Erinnerung, Hg.v. Wolfgang Benz 10)
  16. Clara Huber: Kurt Huber zum Gedächtnis. „…der Tod… war nicht vergebens“, Nymphenburger Verlagshandlung München 1986
  17. Zum christlichen Widerstand: https://de.evangelischer-widerstand.de/html/view.php?type=biografien und http://thema.erzbistum-koeln.de/deutsches-martyrologium/verzeichnis_aller_martyrer/das_verzeichnis/martyrer_aus_der_NS-Zeit/
  18. Friedemann Drews: https://www.endstation-rechts.de/news/die-gedanken-sind-frei-sophie-scholl-und-der-kirchenvater-augustinus.html
  19. Ulrich Chaussy und Gerd R. Ueberschär: „Es lebe die Freiheit“. Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten; Fischer Taschenbuch 3. Auflage – überarbeitete Neuausgabe 2013

Anmerkungen:

Robert Mohr, der Vernehmungsbeamte von Sophie Scholl (arbeitete ab 1948 in der Kurverwaltung von Bad Dürkheim) (1951): „ich kann nur wiederholen, dass dieses Mädel, wie auch ihr Bruder, eine Haltung bewahrt hat, die sich nur durch Charakterstärke, ausgeprägte Geschwisterliebe und eine seltene Tiefgläubigkeit erklären lässt. Wie mir aus der Vernehmung erinnerlich, befassten sich Sophie und auch Hans Scholl neben ihrem Studium eingehend mit Religions-Philosophie, ja, ich hatte den Eindruck, dass sie in religiöser Hinsicht eigene Wege gingen. Wie dem auch sei, jedenfalls waren sie tiefgläubig.“ (Weiße Rose 179; zu Mohr s. Chaussy/Ueberschär. Ebenso über den Vernehmungsbeamten von Hans Scholl: Anton Mahler.)

Prof. Rene Spitz zur Hochschule für Gestaltung (HfG – Geschichte):

die motive ihres widerstands wuchsen aus ihrem bedürfnis, die werte persönlichkeit, freiheit, menschenwürde, individuum und selbstbestimmung zu verteidigen. Die „christlich-religiöse und sittliche empörung über die gewaltverbrechen gegenüber den juden und polen im osten sowie über die deutsche okkupationspolitik in den besetzten ländern“ zählt ebenso hierzu wie ihre ablehnung der totalitären herrschaft im innern, die jede politische, geistige, künstlerische und religiöse freiheit ausgelöscht und die autonomie der wissenschaften und des rechts unterdrückt hatte. Sie kämpften gegen einen pervertierten, totalen unrechtsstaat und den forcierten kollektivzwang im nationalsozialismus, aber auch gegen die identifikation von nation und regime, gegen die politische loyalität der massen, gegen den weitverbreiteten opportunismus und bequemes mitläufertum in der bevölkerung. „Begeisterung, anpassung und partielle resistenz waren im alltäglichen leben unter der ns-diktatur zu einem vielschichtigen komplex verschmolzen, so daß 1945 kaum jemand guten gewissens einen moralischen rigorismus verfechten konnte“ – inge scholl und otl aicher gehörten zu den wenigen, die es konnten und die dies auch als ihre pflicht betrachteten.

als „geistige mentoren“ (christian petry) der münchner studenten gelten die katholischen publizisten carl muth, herausgeber der katholischen literarisch-philosophischen zeitschrift hochland, die im juni 1941 verboten wurde, und theodor haecker, philosoph und kierkegaard-interpret, autor des werkes was ist der mensch, das auf das denken der geschwister scholl nachweisbar großen einfluß hatte.116 Von ihnen erhielten die mitglieder der weißen rose die anregungen, die werte eines lebendigen christentums, genau: eines fortschrittlichen katholizismus, mit den vertrauten idealistisch-philosophischen idealen zu verbinden. Sie fühlten sich der moralischen, christlich-abendländischen verantwortung verpflichtet, die freiheit des einzelnen gegen den totalitären staat zu verteidigen. Ihr ziel war die verteidigung der europäischen idee, „also alles, was geistesgeschichtlich und religionsphilosophisch in den ersten vier flugblättern evoziert und unter abendländischer kultur verstanden wurde“. 114-117 http://renespitz.de/index.php?id=29

Überlegungen:

Das Buch von Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, München 2013 müsste eigentlich einen anderen Titel tragen. Es handelt sich nämlich nur am Rande um eine Inge Scholl Biographie. Das Hauptinteresse liegt darin, die Rezeption der Weißen Rose in der Deutschen Gesellschaft auch anhand von Inge Scholl nachzuvollziehen. Und das ist sehr spannend: Wie wurde die Weiße Rose rezipiert, wer hat was warum aufgegriffen, interpretiert, eingeordnet? Ein paar interessante Schlaglichter aus dem ausgezeichneten Buch.

  1. Ist die Weiße Rose Teil politischen Widerstandes gewesen? Hatte sie etwas gegen die Nazis – oder doch grundsätzlicher: Wollte sie nicht nur die Nazis bekämpfen, sondern die ganze Gesellschaft auf ein anderes Fundament (christlich, kulturell) stellen, ein Fundament, das die Nazis zerstört hatten? Ihr Tun wurde entsprechend mit Hilfe von Märtyrergeschichten gedeutet. Der christliche Glaube bot dem zerstörten Land, desillusioniert von der Menschen verachtenden Ideologie, neuen Sinn, Verluste konnten bewältigt werden. Von daher wurde diese tragende und weiterführende Sicht der Weißen Rose betont.
  2. Zukunftsweisend – Demokratie aufbauend: Die Mitglieder der Weißen Rose traten ein für Menschlichkeit, für die Demokratie, für eine Demokratie, bestimmt von Moral.
  3. Weil die Mitglieder der Weißen Rose an Kunst, Literatur, Musik, an der christlichen Tradition großes Interesse hatten, halfen sie dem geschlagenen und ernüchterten Volk an die große Tradition vor der Zeit des Nationalsozialismus anzuknüpfen.
  4. Sie halfen, die eigene Biographie Deutscher zu verarbeiten: Ich wusste, warum ich keinen Widerstand leistete – es war zu gefährlich, sieht man an den Mitgliedern der Weißen Rose, wie gefährlich Widerstand war. Gleichzeitig: Sie dienten als gutes Gewissen dafür: Sie sind das gute Deutschland – Deutsche waren nicht nur schlecht.
  5. Das Thema Freiheit konnte gegen den Kommunismus, der Ostdeutschland mit eiserner Faust regierte, entgegengestellt werden: Die Weiße Rose ruft auf, für die Freiheit zu kämpfen. Die Freiheit, die in der Bindung an Gott ihre Grundlage hat, muss gestaltet werden.
  6. Sie traten ein für die Freiheit der Lehre an den Universitäten.
  7. Die Geschichtswissenschaft nahm sich des Themas an – sie weiß mehr als die emotional gebundenen Familienangehörigen, die sich bislang darum gekümmert hatten, das Handeln der Hingerichteten publik zu machen, damit es nicht vergebens war. Kritische Wissenschaft statt Zeugen, statt emotionales Miterleben und damit Wissenschaft statt voreingenommene Interpretation.
  8. Traditionell wurden die Mitglieder der Weißen Rose als Menschen gesehen, die zu Opfern wurden, weil sie für etwas eintraten – und in diesem Zeitraum änderte sich das: Sie wurden einfach als Opfer des Nationalsozialismus angesehen. Und das bedeutet: Sie waren nicht die einzigen Opfer des Nationalsozialismus, entsprechend konnten sich viele Deutsche als solche Opfer sehen. Sie haben zwar nicht für etwas gekämpft, waren aber eben – warum auch immer – Opfer. Oder: Sie haben Widerstand geleistet – wie viele Deutsche von sich sagten, dass auch sie auf ihre Weise Widerstand geleistet haben, und sei er noch so unscheinbar gewesen. Das heißt: Die Mitglieder der Weißen Rose waren im Grunde wie ich.
  9. Dann: Die Erinnerung an die Weiße Rose konnte keinen Gegenwartsbezug mehr herstellen – also kann man sie vergessen. Sie waren idealistisch – nicht politisch. Und so verzichtete man in den späten 60ger Jahren auf solche Helden: antiquiert, vom 19. Jahrhundert abhängig, religiös. Jetzt zählten Kommunisten, Che Guevara und co. – radikal muss der Widerstand sein, die gesamte kapitalistische Gesellschaft muss umgekrempelt werden.
  10. Und dann: Muss der Widerstand radikal sein? Muss die gesamte Gesellschaft umgekrempelt werden? Nein, es geht nun um zivilen Ungehorsam. Die Weiße Rose zeigte zwar keinen zivilen Ungehorsam, zeigte aber, dass sich Bürger nicht alles gefallen lassen dürfen. Damit wird die Zeit der Demonstrationen gegen die Atombewaffnung / Nachrüstung in den Blick genommen.
  11. Dann benötigte man die Weiße Rose nicht mehr, man war stolz auf das, was man geleistet hat: Die Erfolgsgeschichte nach 1945 ist wesentlich. Nicht was vor 1945 war – auch nicht der Widerstand.
  12. Es wurden viele Originaldokumente herausgegeben: Briefe, Tagebücher usw. – endlich konnte man die Mitglieder der Weiße Rose in ihrer jeweiligen Persönlichkeit studieren. Sie waren keine Heiligen mehr, man holte sie von dem Podest. Sie waren nun Individuen wie du und ich.
  13. Entsprechend wurde dann im Zuge der Frauenemanzipation, in den 80ern Sophie Scholl aus der Gruppe der Weißen Rose herausgehoben: Sie wurde zur Identifikationsfigur für andere junge Frauen.

Und das geht bis heute weiter. Man denke nur an die Schwulenbewegung, die Hans Scholl für sich entdeckt hat und ihn entsprechend sexuell einordnen möchte (bis hin zu Zoske, der diesen Aspekt immer wieder aufgreift und andeutet). Wenn ich die Scholls und andere der Weißen Rose als Beispiel dafür angebe, wie Menschen mit der Theodizee-Frage umgehen – wo bin ich einzuordnen? Passt das noch in diese Zeit – ist es eher ein Relikt der Nachkriegsdeutung? Ist das Ausdruck unserer Zeit? Es wird unabhängig von meiner Darlegung allerdings immer wieder darauf hingewiesen, dass die christliche Tradition der Scholls in letzter Zeit übersehen wurde (Beuys, Drews). Ich denke, dass erst in ein paar Jahrzehnten deutlich werden dürfte, ob meine Darstellung in die Zeit passte oder eben nicht, ob sie den Scholls gerecht wurde oder nicht.

(Stand Frühjahr 2018.)

Nachtrag 6.12.2020: https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/gesellschaft/2020/12/04/christlicher-glaube-war-entscheidend-fuer-ihren-widerstand/