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Weihnachtsgeschichten

Was wir in den Geburtsgeschichten finden, ist die Sprache der Religion. Und sie ist nicht nur poetisch zu fassen – wir stehen in der Tradition des Judentums. Gott ist nicht nur poetisch aktiv – er ist in der Geschichte aktiv. In den Weihnachtsgeschichten wird der Glaube, der vom handelnden und auferstandenen Jesus Christus ausgeht, Wort. Er wird Geschichte – und er prägt Geschichte. Die Frage ist für nicht: Warum haben Matthäus und Lukas (und auch Johannes) Geschichten, die wir heute nicht mehr als historische Ereignisse nachvollziehen können, in das Evangelium eingebracht? Die Antworten wären vielfältig – aus der damaligen Zeit heraus, weil man ein ganz anderes Denken hatte als wir heute in unserem a-theistischen Weltbild. Man hatte eine ganz andere Form von Exegese usw. Die Frage gilt also nicht den Evangelisten, sondern eher dem heiligen Geist: Warum hat er in die Evangelien Geschichten hineinweben lassen, die Menschen zu allen Zeiten, vor allem aber im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ihrem Denken, das auf Historisches fixiert ist, nicht rational verstehen?

Eine vorläufige Antwort – eine andere habe ich zurzeit nicht: Damit haben Glaubende und Nicht-Glaubende ewig etwas zu rätseln und können sich an der Wirkungsgeschichte erfreuen. Und an dieser Wirkungsgeschichte habe ich Anteil.

Die Grundlage dieser Formulierung ist: Die Bergpredigt mit ihren äußerst extremen Formulierungen, die in ihrer Extremität (Auge ausreißen…) Rhetorik sind, aber in ihren eigentlichen Forderungen den Menschen auf den Kopf stellen: den anderen nicht beschimpfen, Frauen nicht mit begehrlichem Blick und begehrlicher Hand erniedrigen, nicht am Eigentum kleben, auch wenn er notwendig ist (Mantel), Feinde lieben – bis hin zur Selbstaufgabe; die linke Hand soll nicht wissen, was die rechte Hand tut – auch so eine extreme Formulierung, die Menschen übersteigt, aber eben gegen Heuchelei gerichtet ist. Die Antithesen fordern Gemeinschaft – und versuchen die Grundlage für eine Gemeinschaft zu legen, in der man nicht erniedrigt. Gleichnisse, die ähnlich heftig sind, die fordern, dass man mit Ausgestoßenen und Gesetzesbrechern feiert, weil Gott ihnen vergibt, Menschen, die viel gearbeitet haben, bekommen den Lohn, den auch diejenigen bekommen, die wenig gearbeitet haben… – es tut sich eine andere Welt auf! Wir ahnen, es ist eine Welt, die schön wäre, die wunderbar wäre – aber es ist eine Welt, die wir Menschen so nie hinbekommen werden. Darum leben wir davon, dass wir einander vergeben, dass wir auf unsere Unzulänglichkeit schauen, nicht auf die anderer, dass wir Gott um Hilfe bitten, dass wir wissen: Er allein wird letztlich diese Welt herbeiführen können.

Damit will ich sagen: Wir rätseln ja nicht allein über die Weihnachtsgeschichten, die Auferstehung, die Wunder, sondern die Lehre Jesu selbst ist es, die uns rätseln lässt. Und: Gott wird Mensch! – Das sind alles Aussagen, die Menschen seit 2000 Jahren sowohl akzeptieren als auch ablehnen. Wir leben heute ja nicht in einer Phase, in der allein die Kritiker auf den Plan stehen. In der Kirche selbst gab und gibt es die massivsten Kritiker. Wer versucht nicht, diese Rätsel zu lösen? Und was passiert, wenn wir versuchen, uns da hinein zu arbeiten? Ihre Größe wird – zumindest mir – deutlich. Eben: Der Heilige Geist ist es, der diese Wirkungsgeschichte auch weiterhin in Bewegung halten wird. Wie das Rätsel zu lösen sein wird? Ich bin gespannt. Vielleicht ist es auch ganz einfach. Wir kommen einfach mit unserer Klugheit nicht darauf. Ich denke sogar, dass es ganz einfach sein wird.

Historisch-kritisch frage ich mich: Warum haben gerade die Evangelien, die von der Jungfrauengeburt berichten, warum haben gerade sie einen Stammbaum, der auf Josef zuläuft? Oder, was die Jungfrauengeburt betrifft: rationalistische Antworten gab es schon bei den Rabbinen (Maria wurde von einem Römer vergewaltigt und wollte es vertuschen). Es handelt sich um den Glauben „kleiner Leute“. Beide Kindheitsgeschichten sind extrem herrschaftskritisch (Matthäus gegen die Willkür des Herodes – Gott geht seinen Weg gegen diese Willkür, die letztlich für Gottes Weg unbedeutend ist. Lukas sieht Augustus auch in der Macht Gottes. Nicht die klugen menschlichen Herrscher und ihr Heer an Beratern hat die Geschichte in der Hand, sondern Gott. Zudem wendet sich Lukas gegen die traditionelle Messiaserwartung, die hoffte, dass der Messias die Römer aus dem Land werfen wird – aber Jesus bzw. Gott hat ein ganz anderes Interesse, ein tiefer gehendes Interesse: Befreiung des Menschen von Sünde und Tod. Zudem sei angemerkt: Die Evangelisten haben ja nicht alle Zukunftsaussagen aus dem Alten Testament aufgegriffen, sondern nur das, was von den Ereignissen her irgendwie passend war. So haben sie aus meiner Perspektive erst die Überlieferung der Jungfrauengeburt gehabt – und sie wurde dann im AT gesucht und gefunden (Jes 7,14). Nicht umgekehrt. Darum haben wir ja die Holpereien: Matthäus versuchte aus der Tradition seiner Zeit das Leben Jesu mit einzelnen alttestamentlichen Stellen kompatibel zu machen – und dabei kam dann so etwas heraus: Jesus soll Immanuel heißen. Oder statt Nazarener hat er Nazoräer… Exegetisch aus unserer heutigen Perspektive nicht sauber – aus unserer heutigen Perspektive.

Wir haben hier also unterschiedlichste Ebenen, die wir fein säuberlich mit dem Seziermesser der gegenwärtigen Exegese auseinanderhalten können: Die historische Ebene – weltpolitisch gesehen (Herodes, Augustus, Israel, Städte und Dörfer und Länder: Jerusalem, Nazareth, Bethlehem; Ägypten, jüdische Messiaserwartung… – in den unterschiedlichen Evangelien zum Teil richtige historische Angaben, unabhängig von einander – bzw. auch gemeinsame Angaben). Wir haben die kleine historische Ebene von ein paar Individuen (Maria, Josef – weitere historisch korrekte Infos: Beschneidung des Säuglings usw.). Dann haben wir die Ebene der von Matthäus und Lukas aufgenommenen Traditionen und die Verarbeitung durch die Evangelisten mit ihrem jeweiligen theologischen Interesse. Matthäus aus der Perspektive des Josef, Lukas aus der Perspektive der Maria. Und zuletzt haben wir eben die Ebene des Glaubens, die mit unserem Verständnis von Historischem nicht kompatibel ist: die Welt der Träume, durch die Gott spricht, die Welt, in der Gottes Mächte (Engel) agieren, der Kosmos – nicht nur die Geschichte und die Menschen sind in Wallung – der Stern, der Geist Gottes, der im Hebräischen feminin ist – diese schöpferische Macht Gottes weist die Männer in die Schranken, wie auch das Johannesevangelium sagt: Geboren nicht nach dem Willen eines Mannes, sondern durch Gottes Wirken. Die Ebene des Glaubens findet in diesen Weihnachtsgeschichten wunderbar sprachlich Ausdruck. Kleine einfache Menschen werden durch Gott aus ihrer gewohnten Welt herausgerissen und lernen, sich zu bewähren. Was wissen wir von Maria? Sie war ja noch am Leben, als sich die frühe Gemeinde zu formen begann?

Die historische Ebene ist doch nur ein ganz kleiner Bereich unserer menschlichen Erkenntnis. Für manche ist sie alles – aber sie ist eben nur ein kleiner Bereich. Und das unterscheidet eben auch das Weltbild, das wir immer wieder in unserer Diskussion haben: Das religiöse Weltbild zieht andere Dimensionen mit heran, die das – wie sonst auch immer zu benennende areligiöse Weltbild – nicht kennt bzw. nicht in das Denken einbeziehen will. Ich sehe die Weihnachtsgeschichten als Texte an, in denen der Glaube Wort gefunden hat. Und dann nicht nur das, sondern, um das oben genannte aufzugreifen: Dieser Glaube hat in den Geschichten Wort gefunden – und hat durch dieses Wort Geschichte gewirkt. Und das kann dann auch ein Historiker mit den Mitteln seiner Kunst erarbeiten und nachvollziehen – auch wenn die Grundlage ein Rätsel ist.