GEBURTSGESCHICHTE BEI LUKAS

Das Lukasevangelium (Lk) wird in der Forschung überwiegend um das Jahr 90 n. Chr. datiert. Es stammt von einem Heidenchristen, der vermutlich im Bereich der heutigen Türkei gelebt hat. Es wird vermutet, dass er Arzt gewesen ist, zumindest zeigt er großes Interesse an dem Leiden der Menschen.

Die Geburtsgeschichte des Johannes und Jesu

Johannes + Jesus: Lukas verknüpft zwei Geburtsgeschichten miteinander: Die Geburtsgeschichte des späteren Täufers Johannes und die Jesu. Johannes wird als ein Verwandter Jesu angesehen. Die johanneische Geburtsgeschichte wird hier nicht weiter vertieft werden, es ist jedoch sichtbar, dass beide miteinander verwoben werden: Ankündigung der Geburt des Johannes – Ankündigung der Geburt Jesu – Zusammenkommen der Mütter des Johannes (Elisabeth) und der Mutter Jesu (Maria) + Lied der Maria (Magnifikat) – Geburt des Johannes + Lied des Zacharias (Benediktus) – Geburt Jesu (vgl. 2,40 mit 1,80). Es stellt sich die Frage: Warum verknüpft Lukas beider Geschichten miteinander? Es wird vermutet, dass er auf diese Weise die Johannes-Gruppe und die Jesus-Gruppe miteinander verbinden möchte.

Ankündigung der Geburt Jesu – die Rettung Israels, Gott erhebt die Erniedrigten

Während im Matthäusevangelium (Mt) regelmäßig davon berichtet wird, dass dem Joseph im Traum ein Engel erscheint, erscheint im Lk der Engel unabhängig von einem Traum. Der Engel heißt Gabriel und erscheint zunächst dem Zacharias und dann sechs Monate später der Maria, einer Jugendlichen (ca. 12-14 Jahre alt?) aus Nazareth, um ihr die Geburt Jesu anzukündigen. Maria war mit Joseph verlobt, der ein Nachkomme Davids war.

Dass Joseph – nicht Maria – Nachkomme Davids war, wird wie im Stammbaum des Matthäus auch im Stammbaum des Lk betont (3,23-38; der Stammbaum des Lukas nimmt nicht allein die jüdische Tradition in den Blick, sondern die Menschheitsgeschichte insgesamt – geht also bis auf Adam zurück). Dass Jesus Sohn Davids ist, wird somit entweder auf den „Stiefvater“ Joseph und dessen Adoption Jesu zurückgeführt oder weil stillschweigend vorausgesetzt wird, dass auch Maria aus der Nachkommenschaft Davids stammt. Freilich wird die Elisabeth als Verwandte bezeichnet, was darauf hinweist, dass Maria aus priesterlichem Geschlecht (Aaron) war.

Der Engel Gabriel begrüßt Maria mit „Fürchte dich nicht“ – ein Gruß, der fast immer begegnet, wenn Gott oder seine Gesandten einem Menschen eine Botschaft bringen. Gottes furchterregende Welt soll den Menschen nicht beunruhigen. Wie im Mt ist auch hier vom Heiligen Geist die Rede, der in Maria Mensch werden wird (s. dort). Über das Mt hinaus wird Jesus als ewiger Herrscher auf dem Thron Davids angekündigt. Es wird schon deutlich, dass im Lk die Maria im Vordergrund steht – während im Mt Joseph im Vordergrund des Interesses stand. Das heißt, dass das Mt aus der Perspektive des Josef, das Lk aus der Perspektive der Maria geschrieben wurde. Nachdem das Mädchen ohne Widerstand die Botschaft vernommen hat, sagte sie nur: Ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe, wie du es gesagt hast. Maria reiste schnell zur Elisabeth und als sie einander begegneten, wird auch eine „Begegnung“ der Ungeborenen angesprochen: Johannes hüpfte im Leib seiner Mutter. Daran erkannte Elisabeth, dass mit dem Ungeborenen im Leib der Maria ein besonderer, das heißt ein von Gott auserwählter Mensch anwesend ist. Nach der Begrüßung singt Maria, die zuvor zur Elisabeth geflohen war, wie befreit das Lied, das die Herzen vieler Menschen bis heute bewegt, das Magnifikat. In diesem Lied wird Gottes Macht besungen, der diese unbedeutende junge Frau auserwählt hat. Und das ist Kennzeichen dieses großen Gottes: Er erniedrigt die Stolzen, die Herrscher und erhebt die Niedrigen. Und er wird Israel, wie er versprochen hat, helfen (Lukas 2,46-56).

Dann wird die Geburt des Johannes beschrieben, das Lied des Zacharias (Benediktus) wird wiedergegeben – und auch hier: Besungen wird Gottes großes Handeln zu Gunsten des Volkes Israel. Mit diesen Liedern wird die sehnsüchtige Erwartung des jüdischen Volkes wiedergegeben: Gott wird seinen Messias senden, er wird den Nachkommen Davids auf den Thron setzen, und seine Herrschaft wird eine gerechte Herrschaft sein, eine, die Frieden bringt. Das passt alles nicht mehr so richtig in die Zeit nach der Hinrichtung Jesu. (Dazu siehe unten.)

(Kleine Anmerkung: Es ist nicht von den Eltern Marias die Rede, sondern von ihrer Verwandten Elisabeth, zu der Maria flieht.)

Die Geburt Jesu und die Degradierung der großen Herrscher

Die gesamte Weltgeschichte wird eingespannt, um Gottes Ziel zu erreichen: Der Caesar Augustus befiehlt eine Volkszählung – und aufgrund dieses Befehls wird nun Jesus in Bethlehem geboren. Denn Josef und Maria mussten in die Stadt ihres/seines Vorfahren David reisen. Doch das Kind, das Gott in Maria auf wunderbare Weise Mensch werden lässt, wird nicht standesgemäß in einem Palast geboren, auch nicht an einem hell leuchtenden Tag und in ein goldenes/diamantenes Bettchen gelegt, sondern kommt zur Nacht in einer Tiergrotte/einem Stall zur Welt und wird in eine Krippe gelegt. Und die Nacht einiger Hirten erhellte sich: Ein Engel Gottes trat zu ihnen und sprach: Fürchtet euch nicht – wie er Maria angesprochen hatte. Und dann erfahren diese paar Hirten etwas, was die Welt bewegen wird: Christus, der sehnsüchtig erwartete Messias ist euch (!) geboren, der Herr, der Retter der Welt

An dieser Stelle muss jeder der damaligen Zeit stutzig werden. Wurde doch Augustus (Octavian) als Sohn Gottes (Divi filius) bezeichnet, als Herr (Dominus), als Retter (Sotär), die Zeit wird als pax augusta, als goldene Zeit besungen. Und nicht nur das, sondern: Nicht das Heer akklamiert den Herrscher, wie es im römischen Reich üblich war, sondern: Das himmlische Heer, die Soldaten Gottes, diese akklamieren Gott und rufen: Ehre sei Gott in den Höhen – und auf der Erde Frieden den Menschen seines Wohlgefallens. (Bzw.: Ehre sei Gott in den Höhen und auf der Erde – Frieden den Menschen seines Wohlgefallens.) Und wieder sind wir bei Augustus – dem Friedenskaiser. Und diesem Augustus, dem Erhabenen, diesem wird Jesus Christus entgegengestellt. Und das ist freilich spannend. Warum? Octavian, der den Ehrentitel Augustus bekommen hatte, herrschte als Alleinherrscher von 31 v.Christus bis 14 n.Christus. Augustus war ein Krieger, der sich auch nicht scheute, hunderte Galeerensklaven der Gegner zu kreuzigen. Das römische Reich befand sich am Zenit seiner Macht – was man als Zeitgenosse natürlich nicht wusste – und in dem Höhepunkt der Macht zeigt Gott: Nicht der menschliche Herrscher ist Zentrum, nicht menschliche Reiche sind zentral, sondern: Gott selbst, der in dem machtlosen Kind zur Welt kommt – in diesem Kind liegt das Zentrum der Welt. Das „Goldene Zeitalter“, das Augustus (17.v. Christus) propagierte, ist ein Phantasiegebilde, denn Menschen leiden. Das Lukasevangelium ist um 90 n.Chr. verfasst worden. Und so stellt sich auch hieran die Frage: Ist die Quelle, die Lukas verwendet hat, älter? Stammt sie schon aus der Zeit des Augustus, also aus ca. 14 n.Chr.?

Gab es eine Steuerschätzung in Israel? Wir wissen, dass Augustus reichsweit Steuern erheben ließ. Wann genau in Israel, das ist umstritten, es liegen deutliche Berichte vor: 6 n.Chr. bzw. reichsweite 8/7 v.Chr. Im Jahr 7 v.Christus geschah aber etwas für Herodes sehr Bedeutsames: Er hatte von sich aus einen Krieg gegen die Nabatäer begonnen – und darüber war Augustus erbost und hat Herodes als Zeichen der Unterwerfung einen Treue-Eid schwören lassen. Wie dem auch sei:

Es wird etwas sichtbar, was auch im Matthäus-Evangelium deutlich wurde: die Herrscherkritik. Und als die Hirten diese Akklamation hörten, rannten sie hin, um zu sehen, ob das auch wirklich alles so geschehen war. Und sie fanden es tatsächlich so. Sie berichteten davon – und dann hören wir von einer seltsamen Bemerkung: Maria behielt diese Worte und bewegte sie im Herzen. (2,19; ähnlich hören wir sie in 2,51).

Jesus Christus, der Retter nicht allein Israels, sondern auch der Völker

Jesus wurde nach jüdischem Brauch beschnitten – und zwar im Tempel, weil das Paar mit ihrem Kind in der Nähe, in Bethlehem war. Und in diesem Zusammenhang hören wir wieder eigenartige Menschen sprechen. Es ist von einem Propheten und einer Prophetin die Rede. Und der Prophet Simeon spricht, als er den Säugling Jesus gesehen hatte, ein eigenartiges Wort (das Nunc Dimittis) – und als Prophet eben im Auftrag Gottes: … meine Augen haben deinen (Gottes) Retter/Sotär gesehen, den Gott bereitet hat für alle Völker… – dann sagte er der Maria: Er ist gesetzt worden zu einem Zeichen, das Widerstand erfahren wird – und durch Marias Seele wird ein Schwert dringen. Diese Worte klingen eigenartig. Bislang war in allen Texten und Liedern der Fokus auf das Volk Israel gerichtet, es war vom ewigen Thron die Rede – und hier kommen die Völker in den Blick, es kommt das Sterben Jesu zu Wort. Dieser ist also wirklich ein Prophet, der nicht nur die Erwartungen des Volkes aufgreift, sondern der schon darauf hinweist, dass Gott einen anderen Weg gehen wird mit seinem Messias, als die Menschen des Volkes es erhofft hatten. Gott ist nicht der, der mit seinem himmlischen Heer kommt, der in Kämpfen alle Ungerechten beseitigt und sich auf den Thron Davids in Jerusalem setzen wird – wie im Magnifikat ausgesprochen -, sondern er wird leiden und für die Völker da sein. Doch ist das Wort von der ewigen Herrschaft hinfällig, das der Engel Gabriel der Maria zugesagt hatte? Ist die Aussage hinfällig, dass er ewig auf dem Thron Davids sitzen wird? Nein, denn Christen haben durch die Begegnung mit Jesus Christus gelernt, die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu sehen: Nach seinem Leiden zur Erlösung der Menschen von ihren Sünden, ist er von Gott auferweckt und erhöht worden. Im Einklang mit Gott beherrscht er sein Volk und die Welt. Juden, die Jesus Christus begegnet sind, ebenso die Heiden, die ihm begegnet sind, mussten sich von ihm eine neue Weltsicht schenken lassen. Gott, der unvergleichlich mächtiger ist als Augustus, geht in seiner Macht einen anderen Weg, als der Mensch, der über sehr viele Legionen herrschte.

Diese Geburtsgeschichten sind Ausdruck alter jüdischer Erfahrungen. Sie haben kaum etwas spezifisch Christliches. Warum hat Lukas sie an den Anfang seines Evangeliums gestellt? Er hat sie aus der Perspektive der Christen neu gelesen (Relecture). Spannend ist, dass Lukas alte Traditionen aufgenommen hat. Wie kam er an sie? Hat Maria etwas damit zu tun? Warum schreibt er überhaupt aus der Perspektive der Maria? Das muss im Augenblick noch Frage bleiben.

Diese Geburtsgeschichte endet damit, dass darauf hingewiesen wird, dass Jesus heranwuchs, und von Gott mit Weisheit erfüllt wurde, an Weisheit zunahm (2,40.52). Und es folgt die Begebenheit des 12 jährigen Jesus im Tempel – der im Hause seines Vaters – also Gottes ist – und das drei Tage lang. Drei Tage lang – dann die Freude der Eltern, ihn gefunden zu haben. Korreliert das mit den drei Tagen im Grab (bzw. christliche Tradition: Vor seiner Auferstehung hinabgestiegen in das Todesreich um die Toten zu belehren/befreien)?