RELIGIONSKRITIKER KRITISCH GESEHEN
Die folgende Darstellung kann nicht umfassend sein. Sie gibt ein paar Schlaglichter auf bekannte Religionskritiker. Sie sollen Appetithappen sein, für eine intensivere Beschäftigung mit ihnen. Es wird immer gesagt, man solle gegenüber der Religion – insbesondere dem Christentum – seinen Verstand einsetzen. Das gilt gleichermaßen – und das wird häufig vergessen – gegenüber atheistischen Weltbildern. Die hier dargelegten Kritiken wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte in der Auseinandersetzung mit ihnen geäußert:
(1) Ludwig Feuerbach: Kritik aus der Perspektive der Religionsphilosophie/-psychologie
Biographische Angaben: * 1804 Landshut, † 1872 Rechenberg bei Nürnberg
Kind eines berühmten Juristen und einer Mutter aus altem Adel. Wuchs auf unter einem herrschsüchtigen Vater, der sich von seiner Frau und den Töchtern trennte und mit seiner Geliebten und den eigenen Söhnen umzog. Feuerbach studierte Theologie, dann Philosophie. Zahlreiche Werke, darunter sein religionskritisches Hauptwerk: Das Wesen des Christentums (1841). Rege Reisetätigkeit (in Heidelberg trotz Ehe liiert mit einer 16jährigen Verehrerin). Verarmung – dann Unterstützung durch zahlreiche Freunde. Kontakte zu kommunistischen und materialistischen Gruppen, ohne sich jedoch zu binden. 1869 Eintritt in die SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei).
Religionskritik:
Der Mensch ist in sich gespalten. So erfährt sich der Mensch als sterblich – Gott als unsterblich. Er sieht sich als negativ an (Sünde, Schuld) und projiziert alles Gute auf einen selbst erdachten Gott: Der Mensch erschafft Gott – nicht Gott erschafft den Menschen, so der berühmte Satz. Das muss, so Feuerbach, geändert werden, damit der Mensch selbst seine guten Seiten erkennen kann und wieder gut wird. Die Vernunft ist das Größte: Sie kann erkennen, dass Gott ein Geschöpf der Vernunft ist. Und wenn sie das erkennt, hat sie sich zum Äußersten entfaltet. Christen kennen Nächstenliebe, aber diese ist keine echte Liebe, sie möchte nur von Gott anerkannt werden. Liebe ist also egoistisch. Feuerbachs Kritik ist für gegenwärtige Atheisten immer noch grundlegend.
Kritik an Feuerbach:
- Feuerbachs Thesen – so kann inzwischen gedacht werden – sind Projektionen. Sie waren philosophisch begründet, halten aber logischem Denken nicht Stand. Es wird nur ein Gegensatz postuliert. Glaubende sagen: Wir glauben an Gott, weil es ihn gibt – Feuerbach sagt dagegen: Nein, ihr glaubt an Gott, weil ihr ihn euch gemacht habt. Das heißt: Etwas für die Glaubenden Seiendes wird von Feuerbach in die Psyche des Menschen verlegt. Voraussetzung Feuerbachs: Gott ist Folge der Psyche. Feuerbach hat insofern Recht, weil viele Glaubende Gott auch als einen beschreiben, der für ihre Psyche Bedeutung hat (er gibt Kraft, tröstet…). Aber seine Schlussfolgerung ist nicht zwingend. Warum sollte der Mensch in einer Art Schizophrenie das Gute/Gott aus sich selbst heraus-setzen? Hier steht die antike Welt der Götter im Blick: Sie sind Personifizierungen menschlicher Wünsche (unsterblich, kraftstrotzend…) – aber auch das stimmt nur zum Teil.
- Feuerbach schafft sich einen Menschen nach eigenem Bilde. Ist der Mensch so, wie ihn Feuerbach sich vorstellt? Es gibt viele Menschenbilder – auch in der Philosophie.
- Nicht nur Glaubende sind anderer Meinung, sondern die gesamte Philosophie des Idealismus hat schon lange das Thema angedacht und ist zu anderen Schlussfolgerungen gekommen als Feuerbach.
- Der jüdische-christliche Gott ist nicht nur Projektion des Guten, das der Mensch aus sich selbst auslagert. Gott wird auch vielfach als erschreckend, als negativ angesehen (z.B. Hiob).
- Die Sehnsucht nach Gott lässt die Erkenntnis Feuerbachs zu, dass der Mensch sich ein Objekt der Sehnsucht geschaffen habe – aber der christliche Glaube deutet es andersherum: Dass der Mensch Sehnsucht hat nach Gott, das liegt daran, dass Gott sein Schöpfer ist. (Altbekannte Frage in diesem Zusammenhang: Belegt der Durst des Menschen nach Wasser, dass es kein Wasser gibt?) Hier steht somit „Idee“ gegen „Idee“, Weltsicht gegen Weltsicht. Welche ist richtig? Da es keinen neutralen Menschen gibt, kann er das nicht sagen.
- In Feuerbachs Zeit hat die Religion / Kirche die Sünde sehr betont – vor allem die protestantische Kirche: Der Mensch ist Sünder. Feuerbach versucht, den Menschen aus dieser Knechtschaft auf seine Art zu befreien. Heute stellt sich jedoch die Frage: Liebt der Mensch, der in sich selbst die positiven Seiten eines irrealen Gottes sieht, die Menschen mehr als einer, der an Gott glaubt? Der Beweis steht noch aus. Bislang haben atheistische Menschen und Systeme diese These noch nicht bewahrheiten können.
- Den Christen wurde der Vorwurf gemacht, Nächstenliebe nur aus Gründen des Egoismus zu üben. Heute meinen manche beweisen zu können, dass Nächstenliebe etwas ist, was im Menschen naturgemäß angelegt ist (vgl. Jesus – aus Mitleid Menschen helfen; Mt 25,31ff.), also nicht nur christlich bedingt ist. Wenn Nächstenliebe also im Menschen angelegt ist – dann nur in Christen nicht? Das zeigt: Was immer Christen tun, das ist aus atheistischer Sicht übel – erst dann, wenn man erkennt, dass es etwas auch sonst an guten Taten gibt, wird ihr Tun in das allgemeine Tun eingegliedert und als menschlich – nicht als christlich – anerkannt.
- Nur angemerkt sei: Dass Menschen Götter erschaffen, das ist kein neuer Gedanke. Den finden wir schon im Alten Testament – besonders prägnant aber im Evangelium des Philippus (2. Jh.): „Aber wenn jetzt die Menschen Gott erschaffen wollen, erschaffen sie in der Welt Götter und beten ihre Geschöpfe auch noch an. Eigentlich müssten die Götter die Menschen anbeten.“ (Klaus Berger (Hg.): Das NT und die frühchristlichen Schriften, InselVerlag, Frankfurt 1999)
(2) Karl Marx: Kritik aus der Perspektive der sozialen Frage und der Geschichte
Biographische Angaben: * 1818 Trier, † 1883 London
Kind eines Anwaltes, Enkel bekannter Rabbinerfamilien. Eltern konvertierten zum Protestantismus. Er studierte Rechtswissenschaften und Finanzen. War Journalist / Redakteur regierungskritischer Blätter. Er musste Repressionen durch die Zensur erleiden – er entwich nach Paris und war Mitglied im Bund der Gerechten (= Vorläufer der Kommunistischen Partei), und lebte in Brüssel. Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen. Es erschienen zahlreiche Werke. Gemeinsam mit Engels arbeitete er an einem geschichtlichen Thema: Geschichte ist nicht Weiterentwicklung des Verstandes, sondern das Soziale und Materielle treibt die Geschichte voran (Materialismus). 1848 erschien das „Manifest der Kommunistischen Partei“. 1849 „Flucht“ nach London. 1872 erschien der erste Band: Das Kapital. Zeitweise lebte er mit seiner Familie sehr verarmt. Familiäre Auseinandersetzungen und Intrigen – auch mit dem Vater. Auseinandersetzungen mit dem Vater wegen ausbleibender finanzieller Zuwendungen.
Religionskritik:
Der Mensch wird von Kapitalisten unterdrückt – er leidet. Religion ist die Flucht vor Leiden in die Vorstellung einer paradiesischen Zukunft im Himmel. Religion ist das Opium des Volkes. Der Mensch, der in die Phantasie „Gott“ flüchtet, ist gelähmt und bekämpft nicht die Kapitalisten – und die Kirchen unterstützen die Kapitalisten, indem sie diese Phantasie intensivieren. Der Mensch muss das irdische Leiden bekämpfen, dann wird sich auch die Religion ins Nichts auflösen, die Kirchen werden dann auch keine Bedeutung mehr haben. Weiter gedacht: Kirchen müssen als Teil des kapitalistischen Systems bekämpft werden, damit Menschen bereit sind, für diese gute irdische Zukunft zu kämpfen. Aufgrund der Sicht, dass nicht Menschen die Geschichte machen, sondern die Geschichte den Menschen, versucht er die Geschichte im Sinne des von ihm in der Geschichte erkannten Materialismus voranzutreiben. Während Feuerbach offen lässt, warum der Mensch alles Gute auf Gott projiziert, erklärt also Marx, dass er das tut, weil er unter den Kapitalisten leidet.
Eine kleine Kostprobe: „Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erste möge wohltätig sein. Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser Infamien auf der Erde. Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel nötiger als sein Brot. Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duckmäuserig, und das Proletariat ist revolutionär.“ http://www.vulture-bookz.de/marx/archive/quellen/Marx~Die_sozialen_Prinzipien_des_Christentums.html
Kritik:
- Die Thesen von Marx werden durch den Vergleich der Bundesrepublik Deutschland mit dem der Deutschen Demokratischen Republik hinterfragt: In der Bundesrepublik waren die Menschen reich – und die meisten Menschen waren Christen. In der DDR waren sie arm und keine Christen. Man mag andere Gesellschaften heranziehen, die das Gegenteil belegen. Aber weil es auch Gegenbeispiele gibt, ist dieser Marxsche Ansatz nicht zwingend.
- Dass Religion betäubt, das mag streckenweise so sein – aber christliche Religion ist seit 2000 Jahren auch Motor für positive gesellschaftliche Veränderungen.
- Man kann sich auch anders schneller und effektiver betäuben als mit diesem komplizierten „Etwas“, das Religion genannt wird.
- Marx selbst hat den Maßstab für das, was gerecht und ungerecht ist, der Bibel bzw. seiner jüdisch-christlichen Tradition entnommen (Amos, Jesus) – selbst sein Bild von der paradiesischen Zukunft, dem wunderbaren Zusammenleben ist Folge von Apostelgeschichte 4,32ff. Er hat diese Zukunftserwartungen säkularisiert.
- Jesus lehrt: Nur veränderte Menschen können die Welt positiv verändern. Marx lehrt: Die Gesellschaft prägt den Menschen – nicht der Mensch die Gesellschaft. Die Unlogik im Grundsatz besteht darin, dass Marx selbst ja einen neuen Ansatz (mit anderen) in die Gesellschaft bringt.
- Zur selben Zeit wie Marx hat Johann Hinrich Wichern seinen Ansatz aus dem christlichen Glauben heraus verbreitet: Kirchen müssen mit Hilfe der Kapitalisten die Welt verändern. Die Folge: Diakonie und später auch die Caritas. Sie sind weltweit bis heute die treibende Kraft zur sozialen Veränderung. Ob Nachfolger von Marx treibende Kräfte für positive soziale Veränderungen in der Welt sind, mag jeder selbst beurteilen. Nächstenliebe ist ein wesentliches Feld des Christentums – diejenigen, die es ihm aus der Hand nehmen, sind nicht die Atheisten und Sozialisten, es ist der säkulare Staat, der einsieht, dass es der Bevölkerung möglichst gut gehen muss, wenn es keine Aufstände geben soll.
- Dass die Religion Hand in Hand geht mit den Kapitalisten, das hat er aus der konkreten Situation seiner Zeit erschlossen, allerdings gab es auch damals Strömungen, die dieser Sicht nicht entsprachen. Wie dem auch sei: Dass die christliche Religion unterdrückt (Hand in Hand mit den Kapitalisten), das ist gegenwärtig vielleicht lokal noch der Fall, aber nicht mehr insgesamt. Dass die kommunistischen Systeme nicht unterdrückend aktiv sind, lässt sich kaum sagen.
- Man kann einwenden, dass der Marxismus nie konsequent durchgeführt wurde, sondern dass Menschen ihn für ihre Sicht missbraucht haben, von daher unterdrückerische Systeme entstanden sind. Aber ist das eine Entschuldigung? Denn gerade aus marxistischer Sicht kommt der Vorwurf an das Christentum, dass der Weg Jesu nicht richtig sei, weil er nicht umgesetzt wurde. Wenn dieser Vorwurf den Christen gilt – dann gilt er entsprechend auch den Marx-Anhängern. (Dass der Sowjetkommunismus wie der chinesische Kommunismus kein wahrer Kommunismus sei wird auch gesagt. Aber kann es den geben? Ist dieser nicht selbst ein Glauben? Siehe unten. Interessant ist, dass angeblich viele Menschen in China Christen werden, weil sie sehen, dass Religion und Sozialismus im Christentum gut vereinbar sind.)
- Manche möchten Marx von den massiven Gewalttaten lösen, die im Kommunismus weltweit auch gegen Christen ausgeübt wurden. Marx war Denker – kein Henker. Aber sein Werk zeichnet verbal vor, was andere umsetzten. Nichts desto trotz haben Christen Ansichten von Marx aufgegriffen und sich sozial wieder den Vorgaben von Jesus Christus zugewandt.
(3) Friedrich Nietzsche: Kritik aus der Perspektive von Ästhetik und Kunst
Biographische Angaben: * 1844 Röcken (Sachsen-Anhalt); † 1900 Weimar
Kind eines evangelischen Pfarrers, der starb, als Nietzsche 5 Jahre alt war. Er wuchs unter sechs Frauen auf (Naumburger Frauenhaushalt). Schon in der Schule entwickelte er ein eigenes Bild von der Antike, das er der kleinbürgerlichen christlichen Moral entgegenstellte. Ab WS 1864/65 begann er Theologie und klassische Philologie zu studieren. Er gab das Theologiestudium auf und wurde mit 24 Jahren Professor für klassische Philologie. 1870 lernte er den atheistischen Theologieprofessor Franz Overbeck (das Christentum seit den Kirchenvätern hat nichts mit dem ursprünglichen Denken Jesu zu tun) kennen, die Freundschaft blieb bis zu Nietzsches Tod. Die Professur legte er mit 34 Jahren aus gesundheitlichen Gründen nieder und reiste, um seinem Leiden Linderungen zu verschaffen. Ab 45 psychisch erkrankt (Folge von Syphilis?).
Religionskritik:
Nietzsche war der Ansicht, dass der Mensch Gott getötet habe (Gott ist tot) und nun außerordentlich einsam sei. Und weil er Gott getötet hat, müsse er nun selbst ästhetisch Schöpfer sein (Dichtung); Metaphysik / Transzendentes wird in dem grundlegenden Weltgesetz des Lebens und dessen Ästhetik erkannt. Dann vor allem aber ist hier wichtig: Eine neue Moral muss sich der Mensch nach dem Tode Gottes erarbeiten, eine Moral die der (paulinischen) christlichen Sklavenmoral entgegenstünde. Christen würden nur die Schwachen, Ohnmächtigen, Wertlosen hervorheben, um Wissenschaft und Kultur zu verderben – dagegen müsse der wahre Mensch sich selbst höher entwickeln, zu einem Übermenschen machen. Das sehen die christlich Missratenen (Unwerten), die sich ein imaginäres Jenseits errichten, als böse an und sie hassen die Vornehmen, die sich im Diesseits hoch entwickeln. Schopenhauer hatte Mitleid betont – Nietzsche meint, Mitleid würde nur das Leid vermehren – dagegen müsse man vernichten – und sich dazu überwinden, denn man entwickelt sich auf diesem Wege zum Übermenschen. Es geht ihm um die „Umwertung aller Werte“. Es geht um den „Willen zur Macht“, das heißt: der Mensch muss sich selbst in den Griff nehmen und maximal steigern. Der Mensch bestimmt sich selbst, geht damit über die Evolution des Tieres hinaus. Wie die Werte letztendlich aussahen, hat er nicht mehr dargelegt, aber es geht um das ästhetische Schaffen und damit um die Erfüllung des Weltgesetzes und des Lebenssinnes. Das sich selbst entwickelnde Genie ist aber gleichzeitig ein verletzliches Wesen, weil es so weit entwickelt ist. (Diese Sicht von 1888 ist notwendig, um sich als kranker Mann selbst noch in dieses Denken vom Übermenschen einzeichnen zu können.) Dass aber Missratene – nicht das zerbrechliche Genie! – vernichtet werden müssten und der neue Mensch gezüchtet werden müsse, dieser sozialdarwinistische Ansatz findet sich in einem Fragment von 1884. Es ist aber schwer, solche Aussagen einzuordnen, nicht nur darum, weil Nietzsche selbst schwer zu interpretieren ist (und davor gewarnt wird, Nietzsche wörtlich zu nehmen), sondern auch darum, weil seine Schwester möglicherweise Texte vernichtet und vermutlich auch selbst welche formuliert hat, die eine eindeutige Interpretation verhindern. Parallel zu seinem körperlichen Verfall entwickelte er immer extremere Machtphantasien. Er war kein Nihilist (alles ist sinnlos) – sondern entwickelte den Gegenmenschen – den er als Gegengewicht zum getöteten Gott errichtete. Ich denke, dass sein Idealbild vom Menschen die griechischen Skulpturen wiedergegeben haben: aus weißem Marmor, harmonisch, erhaben, wunderschön, göttlich. Und diesem Idealbild entsprach das reale Menschsein überhaupt nicht. Nietzsche war nicht gegen Jesus (wie er sich ihn vorstellte) – sein Kampf richtete sich gegen die Nachfolger, die das Leben Jesu verfälscht hätten: Jesus selbst wird betont, da er den Menschen zu sich selbst geführt habe, es gilt das Leben, nicht die Lehre. (Man muss auch hier bedenken: Das Jesus-Bild von Nietzsche wandelt sich während des Schreibprozesses.) Eine der letzten Zeilen von Nietzsche (1889) lautet: „Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen?…“ und unterschreibt: „Der Gekreuzigte“
Nietzsche wurde von vielen Intellektuellen begeistert aufgenommen, aber auch von Nationalsozialisten, die ihn in ihre Ideologie einarbeiteten. Aus diesem Grund war Nietzsche lange Zeit verpönt. In letzten Jahrzehnten beschäftigt man sich zu recht wieder intensiver mit ihm. Nietzsche selbst war wohl kein Antisemit (wandte sich zum Beispiel gegen Richard Wagner – wobei allerdings die Gründe vielfältig sind).
Kritik:
- Nietzsche ist konsequent: Wenn es keinen Gott (mehr) gibt, dann muss der Mensch selbst sehen, wie er alles auf die Reihe bekommt – auch die Moral – und das geht nur durch puren Egoismus, auch mit Blick auf Hedonismus. Er erkennt, dass die europäische bürgerliche Moralvorstellungen überwiegend mit der jüdisch-christlichen Tradition zusammenhängt. Und diese hat die elitäre Moral der alten Griechen und Römer – wie er sie versteht – verdrängt.
- Nietzsche reagiert anders als Marx nicht allein auf die Kirche seiner Zeit, sondern kritisiert Paulus selbst, die Ursache des europäischen Menschenbildes. Die Kirchen seiner Zeit waren, grob gesagt, sozialer engagiert als zu der Zeit von Marx.
- Was Nietzsche dem sozialen Wirken entgegensetzt, ist Ästhetik, sind schöne Worte. Dieses ästhetische Weltgesetz treibt den Menschen evolutiv weiter. Der christliche Glaube basiert auf dem Wort, die Macht des Wortes, Kunst und Musik sind wichtig. Aber das ist nur ein Teil des Menschen. Das als Hauptthema zu machen, wird dem Menschen, wie man an Nietzsche sieht, nicht gerecht.
- Der Mensch bleibt aus christlicher Sicht: Mensch. Damit auch Geschöpf unter Mitgeschöpfen und Erschaffenem. Auch der Mensch als Genie. Denn gerade der kluge Mensch lebt in Gefahr, sich über Gott zu stellen, wie Jesus sagt.
- Nietzsche erkennt, dass der Mensch Transzendentes benötigt. Für ihn ist es der Ansatz des Lebendigen als ästhetisches Weltgesetz, das den Menschen höher hebt. Aus christlicher Perspektive ist der Ansatz von Nietzsche nur einer der vielen Versuche des Menschen, ohne den Glauben im Leben zurechtzukommen. Kunst kann erheben – kann sie aber auch im Leben und im Sterben tragen? Kunst muss Kunst bleiben – wenn sie zur Religion gemacht wird und nicht als Kunst auf Gott hinweist, verirrt sie sich.
- Ein Mensch, der sich von Gott löst, entwickelt eigene moralische Maßstäbe. Ob sie dem Menschen gerecht werden, wird unter https://evangelische-religion.de/ReligionNeu/verhalten-ethik/ intensiver bedacht.
- Nietzsche wandte sich von der musikalischen Kunstreligion Wagners ab und versuchte eine eigene verbale Kunstreligion zu erschaffen. Es war die Zeit, in der auch andere versucht haben, eine neue Religion zu kreieren. Heute interessiert das nur noch geschichtlich.
- An Nietzsche wird die Reihenfolge sichtbar: a) Ablehnung Jesu, b) Vereinnahmung Jesu (Antichrist), c) sich selbst überhöhen (Ecce homo). Und dann der eigenartige Zusammenbruch.
Es sei angemerkt, dass in der Zeit Nietzsches auch Theresia von Lisieux lebte (1873-1897). Sie ist im Grunde ein christliches Gegenbild zu Nietzsche: https://www.heiligenlexikon.de/BiographienT/Therese_von_Lisieux.htm Sie wurde 1997 von Papst Johannes Paul II. zur Kirchenlehrerin ernannt.
Eine weitere Anmerkung: Ich vermute, dass der Philosoph Max Stirner (1806-1856) Einfluss auf Nietzsche hatte: „Mir geht nichts über mich“ – und ich muss mich in einem selbst erzieherischen Akt von allem (Gewissen, Moral, Heiligem) lösen, um mich selbst besitzen zu können.
(4) Sigmund Freud: Kritik aus der Perspektive der Psychologie
Biographische Angaben: * 1856 Freiberg/Mähren; † 1939 London
Kind jüdischer Eltern, fühlte sich trotz Religionskritik dem Judentum zugehörig. Umzug nach Wien, dort Besuch des Gymnasiums. Seit 1873 Medizinstudium. Selbstversuche mit Kokain. 1885 in Paris Arbeit in psychiatrischer Klinik, Erfahrungen mit Hypnose, Hinwendung zur Traumdeutung, um die Struktur der Seele zu erkunden. Weitere Forschungen machten ihn zum Tiefenpsychologen: Er gilt als Begründer der Psychoanalyse. Sexualität, Triebhafte Wünsche usw. bestimmen, so Freud, den Menschen. 1922 erkrankte der starke Raucher an Gaumenkrebs. Zahlreiche Operationen folgten. Er hatte einen Vater, auf den er nicht gut zu sprechen war. Freud, das 1. Kind der dritten Frau, warf ihm vor, pervers gewesen zu sein und die psychischen Spannungen seiner Kinder zu verantworten habe.
Religionskritik:
Er beschäftigte sich vor allem im Alter mit Religion und sah sich als Feind der Religion jeglicher Form. Er greift Feuerbach, Nietzsche und Erkenntnisse Darwins auf und vermischt sie mit seinen eigenen psychologischen Interpretationen. Religion ist mit einer Kindheitsneurose zu vergleichen. Der Mensch fühlt sich Angriffen der Umwelt ausgesetzt – und sucht sich schützende Mächte, die er gleichzeitig fürchtet. Gott ist ein vom Menschen gebildeter Vaterersatz, denn auch erwachsene Menschen benötigen einen Vater. Das Über-Ich, das Gewissen, das die Gesellschaft gegen das mächtige ES der Triebe ausgebildet hat, bekommt ein Gottesgesicht: Es straft und mahnt und vergibt… Aber der selbst erschaffene Gott kann auch übergroß werden, das heißt, das Über-Ich (Gewissen) versucht den Menschen zu beherrschen – und so kommt es zu Zwangsvorstellungen, Neurosen. Das Über-Ich muss, so Freud, durch das Ich entgöttlicht werden, das heißt: der Verstand muss zwischen den Forderungen des Über-Ich und des Es entscheiden und nur so wird der Mensch frei. Verhaltensweisen sind also abhängig von dem Verstand – nicht von der Religion. Religion leitet er auch vom Ödipuskomplex ab: Die menschliche Urgruppe wurde von einem Männchen geleitet, dem alle Frauen untergeordnet waren. Die Jungmänner ließ dieser Patriarch nicht an seine Frauen. Darum rotteten sie sich zusammen und töteten den Vater. Dann packte sie die Reue der getötete Vater wurde immer stärker überhöht – und somit wuchs das Gottesbild aufgrund des schlechten Gewissens. Religion gründet somit in der menschlichen Infantilität, sowohl des Menschen an sich als auch im infantilen Individuum. Sie hat mit Verstand nichts zu tun. Wenn man sich nun von der Religion abwendet, hat man Ressourcen bekommen, sich wirklich um Wissenschaft usw. kümmern zu können. Denn: Die Welt ist Leiden (vgl. Schopenhauer), die Angebote der Religion sind Illusionen, bekämpfen das Leiden nicht angemessen (vgl. Marx), das bewirkt nur Wissenschaft.
Kritik:
- Psychologen können auch zu anderen Ergebnissen kommen: Und so hat Alfred Adler eine andere Sichtweise: Das Individuum lebt in Gemeinschaft, es erfährt ein Gemeinschaftsgefühl, das vom Gemeinschaftsgefühl des Kindes zur Mutter geprägt ist. Das Gemeinschaftsgefühl hat es allerdings nicht allein mit den Menschen, sondern über den Menschen hinaus mit seiner Lebensumwelt – und spirituell bezogen auf die Transzendenz, das Göttliche. Wobei die Transzendenz eben auch Mängel menschlichen Gemeinschaftsgefühls ausgleichen kann, denn der Mensch strebt danach, die Vollkommenheit des Gemeinschaftsgefühls zu erreichen. C.G. Jung sah Gott in dem kollektiven Unbewussten und der Mensch, der nur ein Teil des Ganzen ist, begreift das Ganze nicht richtig, so dass Gott nicht allein ein Teil des Unbewussten ist, sondern auch transzendent. Der Mensch muss Gott erfassen, indem er in seine tieferen Schichten seines Selbst eindringt. Das heißt: Die Archetypen, die Urbilder, die die Grundstruktur des Unbewussten bilden, hat der Mensch nicht erschaffen, denn er ist abhängig von ihnen. Aber: Religion ist nicht ein Teil des Ich, es ist im Es verankert. Das sieht der Glaubende anders: „Ich glaube“ – und nicht: Es glaubt in mir (theologische Differenzierungen, s. XXX).Viktor Frankl, der vierte im Bunde, hat Gott nicht abgelehnt, sondern als Garant für den Lebenssinn des Menschen angesehen. Denn Gott allein garantiert, dass es Sinn trotz Leiden gibt – allerdings können Gott und Sinn zusammenfallen, sodass man nicht weiß, ob es der dem Menschen zugehörende Lebenssinn ist oder eine göttliche Macht, die den Sinn gibt. Ebenso weist das Gewissen auf Gott hin.
- Psychologie versucht manchmal Religion zu erklären. Da es aber unterschiedliche Versuche gibt (zum Beispiel auch: Das Gehirn des Menschen ist darauf angelegt, sich ständig zu beschäftigen; der Alltag ist langweilig, also sucht sich das Hirn Beschäftigung in der Religion) – und auch vermutlich weitere geben wird – sind sie unter mehr oder weniger interessante „Vermutungen“ einzuordnen.
- Freud ist sehr stark auf den christlichen „Vater“ Gott fixiert. Andere Religionen haben keinen Vater-Gott – aber auch massivere Moralvorstellungen (Islam) bzw. Moralvorstellungen anderer Art (Hinduismus). Andererseits: In der Antike galt Gott / Zeus als „Vater“ – aber diese religiöse Sicht hat keine intensiven Moralvorstellungen entwickelt.
- Religion ist Folge einer Wunschvorstellung – bedeutet das zwingend, dass einer Wunschvorstellung nicht eine Wirklichkeit zugrunde liegen kann? (S. bei Feuerbach das Beispiel mit dem Wasser.) Aus christlicher Perspektive kommt Gott selbst ins Leben des Menschen hinein – was nicht selten auch geradezu gegen die Wünsche des Menschen gerichtet ist.
- An Freud wird deutlich, zu welcher Denk-Akrobatik Menschen fähig sind, um sich Gottes zu entledigen. Der Atheist als infantiles Wesen, das auf Gott eifersüchtig ist und ihn zumindest in der Vorstellung bekämpft. So könnte man die Argumentation umdrehen.
(5) Christopher Hitchens und Richard Dawkins: Kritik an Religion aus der Perspektive persönlicher Ablehnung und der Naturwissenschaft
a) Hitchens: * 1949 Portsmouth (Großbritannien) † 2011 Houston (USA)
1967-1970 Studium: Philosophie, Politik, Wirtschaft. Autor und Literaturkritiker.
„God is not Great“ (deutsch: „Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet“): Religion sei brutal, intolerant, egoistisch und unterwürfig. Es gebe keinen Gott – und sie sei Wissenschafts- und Sexualfeindlich. Man müsse Religion nicht widerlegen, weil sie einfach lächerlich ist. Man müsse ihr mit Spott, Verachtung und Hass begegnen. Massive Kritik an Mutter Teresa: Sie verherrliche das Leid und würde missionieren. Hitchens starb an Krebs – und sagte vorher: Wenn er vor seinem Tod beginnen würde, an Gott zu glauben, solle man ihn nicht ernst nehmen.
b) Dawkins: * 1941 Nairobi/Kenia; Zoologe und Biologe und Autor
In seinem Buch Der Gotteswahn stellt er den Gottesglauben recht umfassend aus allen möglichen Perspektiven dar: Woher der Glaube an einen Gott kommt – er widerlegt die Gottesbeweise – begründet, warum es höchst wahrscheinlich keinen Gott gebe – geht der nicht-religiösen Herkunft der Moral auf den Grund – sieht die Bibel als ein willkürlich zusammengewürfeltes Buch an. Sein Ziel wird ab Kapitel 8 besonders deutlich: Religion ist schlimm, weil sie unwissenschaftlich ist, gegen Homosexualität ist und Fanatismus fördere. (Pädophilie ist für ihn weniger schlimm als Religion. Siehe unten 19.) Er wendet sich gegen alles Übernatürliche und Unlogische, alle Wundergläubigkeit und Gebetsgläubigkeit. Seine Grundlage ist die Evolutionslehre (er sieht Leben aus dem Kosmos auf die Erde gekommen [Panspermie], weil man sich Entstehung des Lebens aus Materie unter irdischen Bedingungen nicht vorstellen kann): Intelligenz ist Folge einer Entwicklung (Mensch) und steht nicht am Anfang (Gott). Zudem sieht er sich als Monist an, das heißt Geist ist nichts, was von Materie zu trennen ist. Alles ist Materie – von daher kann es keinen Gott geben. Warum glauben Menschen noch heute? Weil die Bildung versagt hat und den Menschen nicht deutlich machen kann, dass es auch ohne Glaube geht, weil Religion eine Art Virus ist, der die Menschen infiziert.
Nachtrag: Das Jahr 2024 bringt eine kleine Überraschung: Dawkins sieht den christlichen Glauben differenzierter und sieht sich selbst als kulturellen Christen: https://de.richarddawkins.net/articles/ist-ayaan-eine-christin-bin-ich-ein-christ
Kritik an Hitchens:
- Hitchens gehört zu der Gruppe der Atheisten und Religionskritiker, die meinten, man müsse nicht mit Vertretern von Religionen reden, weil Religionen einfach lächerlich seien – der aber dann doch ein Büchlein geschrieben hat, in dem er sich mit dem Judentum (er war Sohn einer Jüdin) und dem Christentum auseinandersetzte. Er hat sich ein paar Punkte herausgesucht, die er kritisierte – wie eben auch Dawkins sich ein paar Punkte heraussuchte, mit denen er meinte, die christliche Religion zu widerlegen. Diese Punkte müssten jetzt im Detail vorgestellt werden – von der so genannten Opferung Isaaks (der nicht geopfert wurde) bis hin zu den so genannten Gottesbeweisen. Das würde diesen Rahmen sprengen. Im Grunde handelt es sich um Themen, die schon seit Jahrhunderten diskutiert werden und im christlichen Raum auch Antworten gefunden haben bzw. selbst kritisch angesehen werden.
- Der beliebte Vorwurf, dass Religionen für die Konflikte in der Welt verantwortlich sind, kann ganz schnell dadurch widerlegt werden, wenn man sich die Konflikte in der Welt einmal anschaut. Es ging im Wesentlichen um Expansion (Alexander der Große, Römer, Napoleon, …). Der Vorwurf, den man der christlichen Religion machen kann – nicht dem Islam, denn er hat selbst einen kriegerischen Urgrund -, ist, dass es nicht in der Lage war, Kriege zu verhindern. Aber dieser Vorwurf zählt nur, wenn man dem Christentum gleichzeitig vorwirft, nicht den Menschen in einer Art Diktatur des Friedens zu fesseln. (Der Ägyptologe Jan Assmann hatte den jüdisch-christlichen Monotheismus für das Blutvergießen in der Welt verantwortlich gemacht, hingegen den Polytheismus als tolerant dargestellt. Er hat diese Sicht inzwischen wohl revidiert.)
- Der Bruder von Christopher Hitchens, Peter Hitchens, war auch Atheist und wandte sich wieder dem Christentum zu, und zwar einer konservativen Form. http://www.dailymail.co.uk/news/article-1255983/How-I-God-peace-atheist-brother-PETER-HITCHENS-traces-journey-Christianity.html
Kritik an Dawkins – etwas ausführlicher, weil er der „Chef-Atheist“ der Gegenwart ist, das heißt: viele Extrem-Atheisten berufen sich auf ihn, die „Argumentation“ kann man vielfach wiederfinden.
- Das Werk ist insgesamt rhetorisch und plakativ: Es werden Behauptungen aufgestellt, die dann widerlegt werden. Da aber die Behauptungen vielfach aus Unterstellungen bestehen, kann gegen die Widerlegungen kaum argumentativ eingegangen werden. Man muss erst die Unterstellungen bearbeiten – um dann mit Blick auf die Widerlegungen argumentieren zu können. Die Unterstellungen, Polemiken sind eine Art Schutzwall, um die falsche Argumentation herum. (Die Argumentation ist auch kurios: Es könnte sein, es könnte sein – und dann ist es auf einmal so. Viele „könnte“ führen zu sicheren Argumenten. Die Sprache ist dadurch geprägt, dass sie massiv erniedrigt. Prämisse steht fest: Gott kann es nicht geben – Fazit: Es gibt ihn nicht.)
- Es werden undifferenziert alle möglichen Aspekte zusammengeworfen: Religionen, Theologien, Bibel-Aussagen – weil nicht differenziert wird, ist die Ablehnung fundamentalistisch atheistisch einzuordnen.
- Andere Weltanschauungen als die von Dawkins werden nicht akzeptiert.
- Die äußerst komplexen Religionen werden simplifiziert – und gegen das vereinfachte, schlagwortartige, einseitige Bild von Religion wird dann polemisiert. Ebenso wird die Komplexität biblischer Auseinandersetzungen nicht wahrgenommen bzw. passt nicht zum pauschalen, plakativen „Argumentieren“.
- Es werden Themen in den Vordergrund gestellt, zum Beispiel „Gottesbeweise“ und intensivst widerlegt, mit dem Fazit, Gott kann nicht bewiesen werden – dabei gehört diese Widerlegung schon längst zum Allgemeingut der Theologie.
- Was auch zwischen Atheisten umstritten ist (z.B. Monismus) wird von Dawkins als gesichert angesehen. Dabei gibt es für seine Theorie auch keine besseren Argumente. Im Gegenteil. Hat sich der Geist des Menschen nicht durch die Kultur von der Materie befreit? Das „geistreiche“ materielle Individuum stirbt – aber das, was es an Geistreichem entwickelt hat, gibt es anderen Individuen weiter. Es selbst stirbt zwar, aber das Geistige überlebt ihn in anderen Individuen.
- Mancher guter Ansatz, manche gute Anfrage an Religionen und Theologie wird aufgrund der ständigen Diffamierungen ins Gegenteil verkehrt.
- Fundamentalismus und Dualismus bestimmen die „Argumentation“: Theologie ist böse – Naturwissenschaft ist gut; Religiöse sind böse – Atheisten sind gut… Und sind Atheisten verwerflich (Kommunismus…), dann sind die Religionen daran Schuld, die diese jeweiligen Atheisten erzogen haben. Maßstab für einen guten Atheisten: Dawkins selbst.
- Die Vorgehensweise ist unwissenschaftlich: Es werden einige Meinungen genannt – die nicht repräsentativ sind, die nicht von Experten stammen, es wird viel spekuliert (was ja den Religionen vielfach vorgeworfen wird).
- Naturwissenschaftler werden herangezogen, um die Meinung zu unterstützen (Einstein), aber nur soweit diese auch die Meinung von Dawkins belegen – diese widersprechende Aussagen der Wissenschaftler werden nicht herangezogen. Neben den Missbrauch der Wissenschaftler wird auch die Evolution missbraucht, das dadurch, dass sie für Sachverhalte herangezogen wird, die nicht im Bereich der Evolution liegen. (Biologische Evolution ist etwas anderes als kulturelle Entwicklung. Man mag Parallelen erkennen – aber das sind keine Beweise, sondern Interpretationen, Konstrukte…)
- Atheisten, die eine gewisse Sympathie für Religionen hegen, werden wie entsprechende Wissenschaftler diffamiert.
- Es wird unpräzise formuliert: Religionen/Gott seien wie ein Virus, die ansteckend wirken. Viren lassen sich nachweisen – aber keine religiösen Viren; Gene lassen sich biologisch beweisen – Meme sind Behauptungen. Diese Vermischungen sind unwissenschaftlich.
- Er meint als Naturwissenschaftler geisteswissenschaftliche Fragen einfach nach seinen eigenen methodischen Maßstäben widerlegen zu können, dabei haben Geisteswissenschaften andere Methoden ausgebildet.
- Letztlich sieht es so aus, als solle Naturwissenschaft Religion bzw. den Glauben an Gott ersetzen.
- Witz und Polemik können lustig sein und belustigen, sind aber keine stichhaltigen Argumente.
- Mit diesem umfangreichen Werk hat sich Dawkins als Chef-Atheist einen Namen gemacht. Die Einnahmen verwendet er dazu, eine großangelegte Atheismus-Mission zu finanzieren. Weil dieses Buch eines Wissenschaftlers unter Atheisten so populär geworden ist, haben auch Wissenschaftler es unter die Lupe genommen (unter anderem Higgs: „peinlich“): Es gebe sich den Anschein von Wissenschaftlichkeit, würde aber im Grunde nur populärwissenschaftlich herum spekulieren – und gegen eine veraltete Karikatur von Religion ankämpfen – und das, ohne Ahnung von der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zu haben. Intensivste Kritik kommt von dem Wissenschaftler Alister McGrath: Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, 2007 – und Richard Schröder: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, 2008; John Lennox: Warum der Neue Atheismus nicht trifft, 2016; ebenso Kritik vom „frommen Atheisten“ Schnädelbach: Überholter Materialismus des 19. Jahrhunderts, absurd, lächerlich…
- Diese moderne Form des Atheismus im 20. Jahrhundert ist dadurch gekennzeichnet, dass sie im wesentlichen das Christentum kritisieren, aber anders als die Atheisten des 19. Jahrhunderts, Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud, der Religion nichts Adäquates entgegensetzen. Religionskritik des beginnenden 21. Jahrhunderts ist stärker durch diejenigen bestimmt, die dem frommen Atheismus zugerechnet werden: Mit Feuerbach: Es gibt keinen Gott, Religion ist vom Menschen gemacht worden – aber: Es muss einen Grund dafür geben, dass der Mensch Religion gemacht hat: Er benötigt Aspekte der Religion (Gemeinschaft, Hilfe, Trost, Kraft, Lebenssinn…).
- Es sei noch angemerkt, dass es kurios ist, Religion für alles Schlimme in der Welt verantwortlich zu machen. Da hat Marx realistischer gesehen: Es ist der Kapitalismus in seiner brutalen Form. Was Europa weltweit kriegerisch dominant werden ließ, war nicht die Religion, das war das Beiseiteschieben des christlichen Glaubens und seine „Disziplinierung“ durch die Herrschenden Gruppen. Religion war eher Begleitmusik, die auch immer schiefe Töne in diese militärischen Bestrebungen brachte. Während man in Europa Religion wichtig sein ließ, konnten die Händler, Militärs und Herrscher Religion nach Außen vollkommen ignorieren: Hauptsache die Kasse stimmte – mit wem auch immer man paktierte. Gerade als Brite, der in Afrika aufgewachsen ist, sollte Dawkins ein wenig mehr Ahnung von dem Treiben seiner britischen Landsleute in der Vergangenheit haben. Es scheint fast ein nationales Ablenkungsmanöver, wenn die Religionen statt die britischen Regierungen für das Übel verantwortlich gemacht werden.
- Anmerkung zur oben genannten Aussage: Er steht damit in der Tradition von Lenin, der meinte die Wirkung von Religion sei schlimmer als Syphilis und Gott verehren sei Nekrophilie. Später wurde Lenin kurioserweise aufgebahrt und seine Leiche wurde einbalsamiert und konnte von Bewunderern im Lenin-Mausoleum besucht werden. (Kurios auch das, was der Atheist Jeremy Bentham [1748-1832] mit seinem Körper machen ließ: Er ließ sich als Auto-Ikone präparieren und sitzt seitdem in Vitrinen und sonstwo herum.)
(6) Bernd Ehlert ( http://www.tabvlarasa.de/30/Ehlert.php )
Biographisches: Ingenieur, studierte auch Religionswissenschaft und Philosophie
Religion gehört zur Evolution, hatte evolutionäre Vorteile für den Menschen und ist so alt wie das Selbstbewusstsein des Menschen: Der Mensch löste sich vom Tier und erwarb neue Möglichkeiten der Informationsaufnahme, -weitergabe und -verarbeitung. Er erkennt sich dadurch als Person, als ein Wesen, das vom Tod bedroht ist. Religion gab ihm Selbstbewusstsein, stabilisierte ihn in dieser neuen Weltwahrnehmung, die er in seiner Entfremdung vom Tier erklommen hatte. Da nun der Mensch in der Evolution voranschreitet, übernimmt immer stärker sein Denkvermögen und die Vernunft die Oberhand, bis die Religion irgendwann nicht mehr benötigt wird. Die so genannten neuen Atheisten um Dawkins sind noch Teil der alten kulturellen Evolution, der auch die Religionen zugehören, da sie genauso wie diese kämpfen, nur eben gegen Religion. Die Betonung des Denkvermögens und der Vernunft ermöglicht es den Menschen, diese alten Formen zu überwinden und neue zu installieren. Dazu gehört angesichts der möglichen Vernichtung der Menschheit der Abbau sozialer Aggression mit Hilfe des Verstandes.
Anmerkungen zu Ehlerts Sicht:
- Dieser Ansatz ist anregend, weil er so manches mit unserer christlich religiösen Sicht verbindet. Was Ehlert Evolution der Religion nennt, nennen Christen: Gott reagiert auf den Menschen, Gott ist kein starres Etwas, sondern ein den Menschen in Liebe zugewandtes auf ihn reagierendes Sein. Gott rief Abraham und sagte ihm seine Gegenwart zu. Das Volk rief in der Not Gott und Gott berief Moses, er gab dem Volk Gebote, damit die Menschen wissen, wie sie sich verhalten sollten. Gott reagierte in der weiteren Geschichte auf die Verlorenheit des Menschen mit der Sendung seines Sohnes Jesus Christus. Und mit Jesus Christus begann das neue Leben die Welt der Menschen positiv zu durchdringen, was auch Ehlert (allerdings aus säkularer Perspektive) darlegt. Gott reagiert auf den Menschen und lenkt den Menschen immer weiter. Und Gott gab dem Menschen von Anfang an Verantwortung mit (entscheiden zwischen gut und böse), er gab ihm den Verstand usw. So sehen Christen es mit Blick auf das Alte und Neue Testament und die Kirchengeschichte. Die treibende Kraft ist der Geist Gottes. Der Verstand, den Gott Menschen gegeben hat, den sollen sie zur Nächstenliebe einsetzen – das lehrte im Grunde Jesus: Was denkst du: Wer ist der Nächste? (Lukas 10,36)
- Was Christen freilich von Ehlerts Ansatz unterscheidet, ist, dass für Ehlert der Verstand letztendlich Religion nicht mehr benötigt, um die heile Welt, die Welt ohne soziale Aggression, zu erreichen. Das bedeutet: Der Mensch kann nun die weitere Evolution selbst in die Hand nehmen? An dieser Stelle war schon Paulus und in seinem Gefolge Luther kritischer: Der Verstand ist nur die Magd des Bauches… Auch Darwin war sich nicht sicher, ob das menschliche Gehirn, das sich aus einem Affenhirn entwickelt hat, überhaupt vertrauenswürdig ist (Michael Blume).
- Zudem ist der jetzige Verstand aus der Perspektive der Evolution betrachtet nur ein kleines Etwas in der Reihe vergangener und künftiger Entwicklungen. Keiner kann vorhersehen, wohin der Verstand sich weiter entwickelt. Das Gegenteil zu behaupten greift zwar die Evolutionslehre auf – widerlegt sie aber. Denn wie es weitergeht, ist Zufall. Das kann nicht vorher erkannt werden. Das ist interessant, dass sich Atheisten, die sich auf die Evolutionslehre berufen, diese vielfach missachten, wenn es um die Zukunft geht.
- Woher wollen Evolutions-Atheisten wissen, dass der Verstand nicht in diese Richtung der Einheit gehen wird: Der Mensch kommt in Einklang zwischen Mensch – Natur – Gott. Das heißt, dass Gott sich auch immer wieder ins Gespräch bringt, ins Leben hinein und der Mensch das immer besser erkennen wird? Auch wenn der Verstand also nicht so negativ gesehen wird wie im vorangegangenen Punkt, auch die positive Zukunft kann eigene Wege gehen.
- Der Mensch ist vor Gott verantwortlich, auch in dem Sinn, was er mit seinem Verstand und seiner Vernunft macht. Vor wem ist der säkulare Verstand, die säkulare Vernunft verantwortlich? Vor dem jeweiligen Menschen, der abhängig ist von seinem Verstand, seiner Vernunft? Versucht er die anderen Menschen in seinem Sinne zu manipulieren, umzuerziehen, zu zwingen, weil er nur sich selbst verantwortlich ist und seiner Sicht von einer heilen Welt?
- Wie dem auch sei: Hier gibt es Ansätze für ein Miteinander von Atheismus und christlicher Religion zum Wohl der Welt.
Fazit:
- Religionskritik ist überwiegend im Kulturkreis der christlichen Religion entstanden.
- Religionskritik ist häufig Reaktion auf zeitgemäß akzeptierte Äußerungen von Theologie und Kirche, die nachfolgende Generationen als falsch ansehen. Da sie auf zeitgemäße Fehler der Kirchen reagieren, sind sie für Kirchen eine Art Seismographen, die Probleme wahrnehmen – und auf die Kirchen rational reagieren sollten.
- Religionskritik hilft der christlichen Religion weiter, ihren Glauben zu durchdenken, hilft, Sprache zu finden für das, was man glaubt, hilft, in der Kommunikation Argumente zu finden.
- Moderne Atheisten wie Dawkins, Hitchens usw. sind kaum hilfreich, sie zeigen Glaubenden allerdings, wie verächtlich sie gesehen werden. Aber diese atheistische Episode wird inzwischen durch nicht fundamentalistische Atheisten ersetzt.
- Religionskritik verhilft dazu, das Wesen der christlichen Religion immer tiefer zu erfassen. So hat zum Beispiel die marx´sche Kritik dazu geführt, dass Bonhoeffer seine Sicht formulieren konnte: Wie Gott sich in Jesus Christus zu dem Menschen hingewendet hat – und auch nur in dieser seiner Hinwendung zum Nächsten erkannt werden möchte –, so ist auch derjenige, der Jesus Christus nachfolgt, nicht darin autorisiert, Gott spekulierend zu erfassen, sondern ihn durch Nachfolge zu leben, durch Nachfolge in seinem Geist zu leben, das heißt sich dem Nächsten hinzugeben, sich ihm in seinem Leiden zuzuwenden. Aber nicht, um ihn im Leiden zu lassen, sondern in der Nachfolge Gerechtigkeit durchzusetzen, Leiden zu bekämpfen.
- In der Auseinandersetzung zwischen Religionskritik und Religion geht es im Wesentlichen um das Menschenbild. (Was auch für die Auseinandersetzungen der Religionen untereinander gilt: das Menschenbild des Hinduismus, Islam, Christentum unterscheiden sich massiv voneinander.)
- Grundsätzlich gesehen ist die christliche Religion dem Verstand gegenüber negativer eingestellt: Er ist wie der Trieb und das „Gewissen“ ein Teil des Menschen, damit wie diese gleichermaßen von Fehlern und vom Gelingen bestimmt. Eine positive Sicht des Verstandes durch Atheisten verlässt die eigene Grundlage: Evolution. Denn der gegenwärtige Verstand ist nur eine evolutionäre Episode.
- Der Versuch, Religion durch Naturwissenschaft zu ersetzen missbraucht die Naturwissenschaft zu ideologischen Zwecken. Naturwissenschaft arbeitet nach Vorgaben des methodischen Atheismus – nicht aber nach Vorgaben eines ideologischen Atheismus.
Literatur:
Dazu intensiver: http://www.k-l-j.de/069_religionskritik.htm
Heinz Zahrnt: Stammt Gott vom Menschen ab? Lektüre: Religion, stark-verlag 2001